27.05.2024 12:32:53 - dpa-AFX: ROUNDUP/Lauterbach: 'Explosionsartiger' Anstieg bei Pflegebedürftigen

BERLIN (dpa-AFX) - Die Zahl der Pflegebedürftigen ist in Deutschland im
vergangenen Jahr laut Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach deutlich stärker
gestiegen als gedacht. "Demografisch bedingt wäre 2023 nur mit einem Zuwachs von
rund 50 000 Personen zu rechnen gewesen. Doch tatsächlich beträgt das Plus über
360 000", sagte der SPD-Politiker dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND,
Montag). "Woran das liegt, verstehen wir noch nicht genau." In der
Pflegeversicherung gebe es "ein akutes Problem".

"In den letzten Jahren ist die Zahl der Pflege­bedürftigen geradezu
explosionsartig gestiegen", so Lauterbach. Er gehe von einem Sandwich­effekt
aus. "Zu den sehr alten, pflegebedürftigen Menschen kommen die ersten
Babyboomer, die nun ebenfalls pflegebedürftig werden. Es gibt also erstmals zwei
Generationen, die gleichzeitig auf Pflege angewiesen sind: die Babyboomer und
deren Eltern."

Leistungsniveau nicht zu halten

Laut bisherigen Prognosen aus der Wissenschaft erhöht sich die Zahl der
Pflegebedürftigen binnen 15 Jahren von heute rund fünf auf sechs Millionen.
Regional dürfte der Anstieg von Pflegebedürftigen sehr unterschiedlich
ausfallen, besonders stark aufgrund der Demografie etwa in Bayern und
Baden-Württemberg. Zwischen 280 000 und 690 000 Pflegekräfte werden laut
Statistischem Bundesamt bis 2049 nach Vorausberechnung vom Februar bundesweit
fehlen.

Das Leistungsniveau der Pflegeversicherung kann nach Einschätzung von
Lauterbach mit dem jetzigen Beitragssystem allein nicht erhalten werden, wie er
deutlich machte. Die Koalition hatte zum vergangenen Juli eine Beitragserhöhung
für Kinderlose auf 4 Prozent und für Beitragszahler mit einem Kind auf 3,4
Prozent beschlossen. Die Betriebskrankenkassen schlugen Anfang Mai mit
Hochrechnungen Alarm, nach denen für dieses Jahr ein Defizit der
Pflegeversicherung von einer Milliarde Euro und für 2025 von 4,4 Milliarden
droht.

Die Sozialvorständin der Diakonie Deutschland, Maria Loheide, hatte zum Tag
der Pflegenden im Mai gemahnt: "Wenn das Geld der Pflegeversicherung nicht mehr
ausreicht, ist die Versorgung der pflegebedürftigen Menschen gefährdet." Heute
schon ignorierten Krankenkassen, aber auch Kommunen oft wegen Tarifsteigerungen
in die Höhe gehende Personalkosten, sagte Loheide der Deutschen Presse-Agentur.

Ampel schafft keine Pflegereform mehr

Dennoch ist keine rasche Abhilfe in Sicht. Eine umfassende Finanzreform in
der Pflege werde in dieser Legislaturperiode wahrscheinlich nicht mehr zu
schaffen sein, sagte Lauterbach. Es bestehe eine interministerielle
Arbeitsgruppe, sie werde aber "wohl kaum zu einer einheitlichen Empfehlung"
kommen. "Dafür sind die Ansichten der verschiedenen Ministerien beziehungsweise
der Koalitionspartner zu unterschiedlich." Lösungs­möglichkeiten würden durch
die AG neutral und fair nebeneinander­gestellt werden - dies sei dann gute
Grundlage für eine große Reform in der nächsten Wahlperiode. "Dann muss sie aber
auch kommen."

Die Union im Bundestag kritisierte dies als Bankrotterklärung. "Das ist für
die Ampel ein Scheitern mit Ansage", sagte der gesundheitspolitische Sprecher
der Unionssfraktion, Tino Sorge (CDU). "Wenn die Koalitionäre keine Lösungen
mehr finden, weil ihre Ansichten zu weit auseinander liegen, dann sollten sie
den Gestaltungsanspruch im Gesundheitsbereich aufgeben."

Lohnersatz für Angehörige gefordert

Bayerns CSU-Fraktionschef und Ex-Gesundheitsminister Klaus Holetschek sagte: "Die geplante große Pflegeform in der nächsten Wahlperiode kommt viel zu spät."
Holetschek forderte eine Lohnersatzleistung wie beim Elterngeld für pflegende
Angehörige.

Die Angehörigen gelten seit Langem als "der größte Pflegedienst
Deutschlands". Doch viele Familien seien seelisch, körperlich und finanziell am
Ende, mahnte vor wenigen Tagen die Deutsche Stiftung Patientenschutz. "Damit die
Bundesregierung unmittelbar helfen kann, muss das Pflegegeld sofort und pauschal
um 300 Euro erhöht werden", forderte Vorstand Eugen Brysch.

Pflegepersonal fehlt

Laut einer Befragung des Evangelischen Verbands für Altenarbeit und Pflege
vom Februar müssen vier von fünf Pflegeeinrichtungen ihr Angebot einschränken,
weil Personal fehlt. Neun von zehn ambulante Dienste lehnten 2023 Neukunden ab.
Die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg führt Pflegekräfte an der bundesweit
ersten Position unter allen Berufsgruppen mit einem Engpass. Knapp 1,7 Millionen
Pflegekräfte in der Kranken-, Alten- und Kinderkrankenpflege waren 2023 in
regulären Jobs beschäftigt - 10 000 Beschäftigte mehr als im Vorjahr. 82 Prozent
aller Pflegekräfte sind Frauen. Von diesen 1,39 Millionen Frauen arbeitet etwas
mehr als jede zweite in Teilzeit.

Die Pflege im Heim wird unterdessen immer teurer. Die Zuzahlungen für
Pflegebedürftige sind trotz Entlastungszuschlägen zuletzt weiter gestiegen. Zum
1. Januar waren im ersten Jahr im Heim im bundesweiten Schnitt 2576 Euro pro
Monat aus eigener Tasche fällig - 165 Euro mehr als Anfang 2023.

Lauterbach hatte bereits bisher deutlich gemacht, dass er die reine
Beitragsfinanzierung der Pflegeversicherung vor dem möglichen Ende sieht.
Langfristig komme man um Steuermittel hierfür nicht herum, sagte er im April auf
der Altenpflegemesse in Essen./bw/DP/stw

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