27.06.2024 06:00:02 - dpa-AFX: ROUNDUP/'Alles überstanden?' Drosten und Mascolo über Lehren aus der Pandemie

BERLIN (dpa-AFX) - Kaum ein Experte stand während der Corona-Pandemie so im
Fokus der Öffentlichkeit wie Christian Drosten. Sehr viele Menschen und auch die
Politik maßen den Einschätzungen des langjährigen Experten für Coronaviren große
Bedeutung zu. Doch auch Anfeindungen gab es. Im Buch "Alles überstanden?" blickt
der Virologe im Gespräch mit Georg Mascolo, dem früheren Chefredakteur des
Nachrichtenmagazins "Der Spiegel", zurück auf die Jahre der Pandemie.

Um das politische Krisenmanagement und die Rolle von Wissenschaft und Medien geht es dabei ebenso wie um die Herkunft von Sars-CoV-2 und die Frage: Wie
verhindern wir die nächste Pandemie? "Ein überfälliges Gespräch zu einer
Pandemie, die nicht die letzte gewesen sein wird", verspricht der Untertitel.
Was lief gut, was lief schlecht? Welche Entscheidungen waren übertrieben, welche
wurden zu spät getroffen? Fragen wie diesen haben sich Drosten und Mascolo in
dem im Herbst vergangenen Jahres begonnenen Gespräch gewidmet.

"Naturkatastrophe in Zeitlupe"

Eine Pandemie sei "eine Naturkatastrophe in Zeitlupe", vergleichbar mit
einem Vulkanausbruch oder einem Kriegsausbruch, sagt Drosten, Direktor des
Instituts für Virologie der Charité Berlin. "Letzteres ist körperlich und
physikalisch schlimmer und unmittelbarer, man denke nur an die Menschen in der
Ukraine. Doch von der Auswirkung, also was die Anzahl der Toten, die Einschnitte
ins Leben, die wirtschaftlichen Verluste angeht, ist sie vergleichbar. Es kann
alles kaputtgehen, aber es geschieht eben langsam."

Drosten beschreibt, wie ab Ende Januar 2020 Beratungsrunden anliefen, zu
denen er mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eingeladen wurde.
"Einer der ersten Spitzenpolitiker, die sich mit einem Beratungswunsch meldeten,
war die Kanzlerin Angela Merkel." Für das Vieraugengespräch in ihrem Büro sei er
mit dem Fahrrad zum Kanzleramt gefahren. Viel Hilfe bei der Verdeutlichung der
möglichen Entwicklung habe Merkel nicht gebraucht: "Sie hat sofort verstanden,
worum es rechnerisch ging."

Vieldiskutiert: Schulschließungen

Ausführlich sprechen Drosten und Mascolo über das vieldiskutierte Thema der
Schulschließungen, unter anderem darüber, welche Entscheidung zu welcher Zeit in
welchem Kreis fiel. Um potenzielle negative Folgen der Schließungen sei es schon
anfangs gegangen, sagt Drosten - "aber zugegeben weniger um verpasste
Bildungschancen oder andere Folgen für Kinder". Im Fokus habe vielmehr
gestanden, dass viele junge Eltern gerade im wichtigen Medizin- und
Pflegebereich nicht zur Arbeit kommen können, wenn ihre Kinder nicht in die
Schule oder die Kita gehen können. "Da gab es große Befürchtungen, dass dann
plötzlich unentbehrliche Arbeitskräfte nicht mehr zur Verfügung stehen."

Drosten betont mehrfach, dass Maßnahmen an den Arbeitsplätzen ebenfalls als
sehr effizient einzustufen seien, dort hätten sich aber anders als bei den
Schulen starke Interessenvertreter durchgesetzt. "Die Arbeitgeber wollten einen
ungehinderten Betrieb, es gab nie eine ähnlich scharfe Regelung zur
Homeoffice-Pflicht."

Auch Mascolo erklärt, dass die Emotionalität bei der Frage der
Schulschließungen durch ein damit verbundenes größeres Thema entstand: die
Verteilung der Lasten während der Pandemie. "Der Satz "Vor der Krankheit sind
alle gleich" könnte kaum weiter von der Realität entfernt sein. Während der
Pandemie traten die sozialen Ungerechtigkeiten besonders deutlich zutage." Dabei
sei allein schon aus vergangenen Pandemien klar gewesen, dass soziale Fragen
dann immer von herausragender Bedeutung sind.

Prävention mindert Vorsicht

An anderer Stelle erläutert Drosten, warum das in Deutschland
vergleichsweise glimpflich verlaufende Frühjahr 2020 wohl für ein
Präventionsparadox sorgte, das die Welle ab dem Herbst umso heftiger ausfallen
ließ. "Man sieht die Krankheiten nicht, die man verhindert hat, und ist dann
blind für die Folgen, die ohne Präventionsmaßnahmen eingetreten wären", so der
Virologe. "Man sieht also nur den Schaden durch die Präventionsmaßnahmen und
übersieht den Nutzen."

Auch nach der Pandemie schlage das Präventionsparadox wieder zu. "Jetzt
haben viele den Ernst der damaligen Lage vergessen und wollen suggerieren, die
Maßnahmen seien in Wirklichkeit alle übertrieben gewesen", so Drosten. "Es ist
ein so offensichtlicher Mechanismus, und doch fällt man immer wieder auf ihn
herein."

Ein Beispiel dafür ist Mascolo zufolge auch, dass die Politik für eine
vermeintlich überteuerte präventive Einlagerung von Schutzausstattung wie Masken
rasch mal kritisiert werde. "Man glaubt an das Just-in-time-Prinzip - in der
Krise kauft man halt schnell, was man braucht, obwohl das in einer weltweiten
Krise dann alle gleichzeitig brauchen", erklärt der Journalist. "So ein
Verhalten ist sträflich. Niemand kritisiert die Feuerwehr dafür, dass sie
genügend Schläuche kauft, auch wenn es dann gar nicht brennt."

Wo kam das Virus her?

Ausführlich gehen die Autoren auf die noch immer - und wohl auch in Zukunft
- unklare Herkunft von Sars-CoV-2 ein. "Für mich ist die Frage nach der Herkunft
des Coronavirus eines der großen naturwissenschaftlichen Rätsel unserer Zeit",
so Mascolo. "Hat die Natur oder der Mensch diese Büchse der Pandora in Wuhan
geöffnet?" Diese Frage sei politisch ungeheuer aufgeladen und er halte es für
unverantwortlich, dass China die Suche nach dem Ursprung des Virus bis heute
blockiere.

Auch der Weg Chinas in der Pandemie wird von Mascolo kritisiert. Dort habe
man lange versucht, das Virus zu unterdrücken, dann plötzlich trotz geringer
Impfquote alle Maßnahmen beendet. "Von Null-Covid ging es bruchlos zu
Full-Covid." China sei erkennbar unfähig gewesen, den einmal eingeschlagenen
Kurs zu korrigieren. "In einem solchen Land verlieren die Menschen eher ihr
Leben als das Regime sein Gesicht."

Natürlich würden auch in Demokratien Dinge falsch eingeschätzt, "aber dann
gibt es sofort Widerspruch, aus der Opposition, der Wissenschaft, der
Zivilgesellschaft und den Medien. Das führt zu Korrekturen", sagt Mascolo.
Diktaturen aber verbreiteten Angst, nach außen und vor allem auch nach innen.
"Wer unbedingt einen Grund für Demokratiemüdigkeit finden will, muss sich schon
etwas anderes als die Pandemie suchen."

Mangelnde Aufarbeitung

Aufarbeitung werde es in China sicher nicht geben - doch auch in Deutschland mangelt es Mascolo zufolge noch daran. In Schweden sei der finale Report schon
im Februar 2022 vorgelegt worden. Auch Großbritannien stelle sich "einer
rigorosen Aufarbeitung" mit einer dafür gegründeten Kommission. Dort kämen auch
die Angehörigen der vielen am Virus Verstorbenen zu Wort, ergänzt Drosten.
"Und", so Mascolo, "stellen eine Frage, die zwingend zu jeder Aufarbeitung der
Pandemie gehört: Wer ist eigentlich gestorben, der nicht hätte sterben müssen,
weil politische Entscheidungen eben nicht oder zu spät getroffen wurden?"

Mangelnde Aufarbeitung sieht Drosten auch bei den Medien. Diese hätten
während der Pandemie teils stark polarisiert. "Dabei sollten sie doch gerade in
solchen Zeiten eine Wächterfunktion haben", kritisiert der Virologe. Mascolo ist
ebenfalls der Ansicht, dass Polarisierung auch in klassischen Medien inzwischen
zum Geschäftsmodell geworden sei - "eine Entwicklung, die wir aus den USA kennen
und die, so fürchte ich, auch in Deutschland eher noch zunehmen wird".

Die Verantwortung dafür, dass Bürgerinnen und Bürger zunehmend ihr Vertrauen in politische Entscheidungen verloren, liege nicht allein bei der Politik, meint
Mascolo. Vertrauen schwinde, "wenn Teile der Wissenschaft oder der Medien
Seriosität, Faktentreue und Transparenz vermissen lassen". Umso wichtiger sei
es, sich der "fatalen Entwicklung zu entziehen und einen Journalismus zu
praktizieren, der klüger macht und nicht erregter".

"Würde mich wieder der Verantwortung stellen"

Im Fokus polarisierender Darstellungen stand allzu oft Drosten selbst, was
ihm neben etlichen verbalen Anfeindungen auch tätliche einbrachte, wie es im
Buch heißt. "Würden Sie sich eigentlich noch einmal so in die Öffentlichkeit
begeben?", wird der Virologe deshalb von Mascolo gefragt. "Es waren Millionen
Menschen in Gefahr, sollte ich mich da raushalten, nur weil ich zwischendurch
auch mal verprügelt wurde?", antwortet Drosten. "Ich würde mich in einer
vergleichbaren Situation, wenn ich einer der wenigen Experten wäre, die etwas
Wesentliches beizutragen haben, wieder der Verantwortung stellen."

Einer der wichtigsten und gefährlichsten Pandemie-Kandidaten sei aktuell das Vogelgrippevirus H5N1. Das Virus scheine sich bei Kühen einen neuen
Infektionsmechanismus erschlossen zu haben. "Im Moment kann man gar nicht
abschätzen, was das hinsichtlich der Eindämmung und der potenziellen Gefahr für
den Menschen bedeutet." Als weitere mögliche Kandidaten für eine Pandemie nennt
Drosten das bei Dromedaren kursierende und auf Menschen übertragbare
Mers-Coronavirus, bestimmte Paramyxoviren wie das Nipah-Virus und das
Affenpockenvirus.

"Alles überstanden?" ist dank des Gesprächscharakters ein außerordentlich
gut und spannend zu lesendes Buch, das neben einer Chronologie zu den für
Deutschland bedeutsamen Ereignissen und Entscheidungen auch ein sehr
ausführliches Quellen-Register beinhaltet. An vielen Stellen rücken die beiden
Autoren schiefe Bilder und Mythen gerade, wobei stets auch erklärt wird, wie sie
entstanden. Von persönlichen Erfahrungen und Eindrücken geprägt bietet es einen
informativen Schritt der Aufarbeitung./kll/DP/zb

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