21.06.2024 15:39:41 - dpa-AFX: HINTERGRUND 2: Der Mann mit der Kettensäge bei Scholz im Kanzleramt

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BERLIN/MADRID (dpa-AFX) - Im Wahlkampf ist er mit laufender Kettensäge
aufgetreten, die sinnbildlich den aus seiner Sicht überbordenden Staat
zerstückeln sollte. Er behauptet, mit seinem gestorbenen Lieblingshund zu
kommunizieren, tituliert unliebsame Parlamentarier als "Ratten" und wettert
gegen die Kaste - wie er das politische Establishment nennt. Bei der Vorstellung
seines neuen Buchs "Kapitalismus, Sozialismus und die neoklassische Falle" griff
der selbst ernannte "Anarchokapitalist" kürzlich zum Mikrofon und sang vor
Tausenden Anhängern einen Rocksong. "Ich bin der König, ich werde dich
zerstören. Ich habe Appetit für die ganze Kaste", schmetterte er.

An diesem Wochenende kommt Argentiniens Präsident Javier Milei, der häufig
mit dem früheren US-Präsidenten Donald Trump verglichen wird, zu seinem
Antrittsbesuch nach Deutschland. Die Europareise begann am Freitag in Madrid, am
Samstag erhält er in Hamburg den Preis eines liberalen Ökonomenverbandes. Am
Sonntag steht schließlich ein Treffen mit Kanzler Olaf Scholz im Kanzleramt auf
seinem Programm. Der ist als Politiker so ziemlich das Gegenteil von Milei: Hier
der kühle Pragmatiker, da der laute Exzentriker.

Kein Empfang mit militärischen Ehren auf Wunsch Mileis

Vom Aufeinanderprallen dieser beiden Politikstile wird man aber nicht viel
mitbekommen. Der ursprünglich geplante und öffentlich angekündigte Empfang mit
militärischen Ehren - beim Antrittsbesuch eines Staatspräsidenten eigentlich
üblich - wurde kurzfristig wieder abgesagt. Das sei auf Wunsch Mileis geschehen,
sagte der deutsche Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Freitag. Er sprach
auch von einer "klaren Weigerung des argentinischen Präsidenten, eine
Pressekonferenz zu machen". Für den Besuch sei nun nur noch eine Stunde
vorgesehen.

Dass Scholz sich überhaupt mit Milei trifft, verteidigte Hebestreit
allerdings. "Ich glaube man kann es sich in der Weltpolitik nicht aussuchen, mit
wem man es zu tun hat", sagte er. "Herr Milei ist demokratisch gewählt und er
hat eine Einladung nach Berlin angenommen."

Medaille für "Weitsicht und Mut" in Hamburg

Der einzige öffentliche Auftritt Mileis in Deutschland wird nun am Samstag
bei der Hamburger Friedrich-August-von-Hayek-Gesellschaft stattfinden, die ihm
eine nach dem österreichischen Vordenker des Neoliberalismus Hayek benannte
Medaille verleihen wird. Dort wird Milei auch eine Rede halten. "Es geht darum,
dass Javier Milei die Weitsicht und den Mut besitzt, einem Land, das seit
Jahrzehnten von einer Krise in die nächste taumelt, eine Runderneuerung
anzubieten, die an den Wurzeln des Übels ansetzt", begründete der Vorsitzende
Stefan Kooths die Entscheidung in einem Interview des "Handelsblatts".

Linke Organisationen haben zu Protesten aufgerufen. In der Nähe des
Hamburger Veranstaltungsortes soll am Samstag eine Demonstration unter dem Motto
"Kein Preis für die extreme Rechte - Keine Medaille für Milei" stattfinden.

Mileis Sparprogramm sorgt für gewalttätige Proteste

Mileis großes Thema ist der Abbau staatlicher Regulierungen und der Kampf
gegen die Inflation. Seit seinem Amtsantritt im Dezember hat sich in dieser
Hinsicht durchaus etwas getan. Erstmals seit langem ist der argentinische
Staatshaushalt ausgeglichen und die Inflation ging deutlich zurück. Das hat
allerdings seinen Preis: Das harte Sparprogramm würgt die Wirtschaftsleistung
ab. Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet mit einem Rückgang des
Bruttoinlandsprodukts um 2,8 Prozent im laufenden Jahr.

Die Inflation in Argentinien ist noch immer eine der höchsten der Welt. Die
zweitgrößte Volkswirtschaft Südamerikas leidet unter einem aufgeblähten
Staatsapparat, geringer Produktivität der Industrie und einer großen
Schattenwirtschaft, die dem Staat viele Steuereinnahmen entzieht. Die Regierung
strich Tausende Stellen im öffentlichen Dienst, kürzte Subventionen und wickelte
Sozialprogramme ab. Nach Angaben der Katholischen Universität Argentiniens leben
knapp 56 Prozent der Menschen in Argentinien unter der Armutsgrenze und rund 18
Prozent in extremer Armut.

Nach monatelangen Verhandlungen brachte Milei, der im Parlament in Buenos
Aires über keine eigene Mehrheit verfügt, in der vergangenen Woche schließlich
ein Reformpaket durch den Senat. Die Gesetzesinitiative sieht unter anderem die
Privatisierung mehrerer staatlicher Unternehmen, Steuererleichterungen für
Großinvestoren sowie Arbeitsmarkt- und Steuerreformen vor. Soziale Bewegungen
und die linke Opposition verurteilen das Reformpaket als neoliberal und
unsozial. Während der Debatte im Kongress kam es auf dem Vorplatz zu
gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei.

Treffen mit Trump und Musk statt mit Biden in den USA

Bislang hat Milei erst wenige typische Auslandsreisen absolviert. Seit
seinem Amtsantritt im Dezember vergangenen Jahres war er in offizieller Mission
lediglich in Israel, Italien und El Salvador. Zudem nahm er zuletzt am G7-Gipfel
in Italien und der Friedenskonferenz für die Ukraine in der Schweiz teil. Die
für argentinische Präsidenten üblichen Reisen in die wichtigen Nachbarländer wie
Brasilien und Chile ließ Milei wegen ideologischer Differenzen hingegen
ausfallen.

Stattdessen traf sich der Staatschef in den USA mit Tesla-Boss Elon Musk,
besuchte den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump auf der ultrakonservativen
CPAC-Konferenz und trat in Spanien auf Einladung des Rechtspopulisten Santiago
Abascal bei einer Kundgebung zur Europawahl auf. Dort wetterte er gegen den
Sozialismus und ließ sich wie ein Rockstar feiern. Außerdem bezeichnete er die
Frau von Ministerpräsident Pedro Sánchez als korrupt und löste damit einen
diplomatischen Eklat aus.

Spanien warf ihm "Einmischung in die inneren Angelegenheiten" und ein
"Frontalangriff auf unsere Demokratie, auf unsere Institutionen und auf Spanien"
vor. Die Forderung nach einer öffentlichen Entschuldigung lehnte Milei ab. Er
setzt seitdem seine Verbalattacken fort.

Kein Termin bei König oder Regierung in Spanien

Am Freitagnachmittag traf er in der spanischen Hauptstadt Madrid ein. Der
Eklat mit Sánchez hat dazu geführt, dass es dort nun gar keine Treffen mit
Regierungsvertretern oder König Felipe VI. gibt. Stattdessen trifft er sich
unter anderem mit der konservativen Regionalpräsidentin von Madrid, Isabel Díaz
Ayuso, treffen, die ihm einen Orden verleihen wird. Die Zentralregierung warf
Ayuso vor, Sánchez "provozieren" zu wollen. Zudem soll Milei auch dort einen
Preis einer liberalen Stiftung bekommen./mfi/dde/er/DP/ngu

--- Von Michael Fischer, Denis Düttmann und Emilio Rappold, dpa ---

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