28.06.2024 19:02:19 - dpa-AFX: ROUNDUP 4/Frust, Hoffnung, Machtkampf: Der Iran wählt einen neuen Präsidenten

(Neu: Wahlzeit verlängert)

TEHERAN (dpa-AFX) - Nach dem Tod von Präsident Ebrahim Raisi wählt der Iran
einen Nachfolger. Religionsführer Ajatollah Ali Chamenei eröffnete die Wahl am
Freitag traditionell mit seiner Stimmabgabe im Zentrum der Hauptstadt Teheran.
Die Präsidentenwahl steht im Zeichen einer schweren Wirtschaftskrise, Spannungen
mit dem Westen und Frust über die Staatsmacht und Regierung, vor allem in der
jüngeren Bevölkerung. Mit ersten Ergebnissen wird am Samstag gerechnet.

Rund 61 Millionen Wählerinnen und Wähler waren in der Islamischen Republik
dazu aufgerufen, einen neuen Regierungschef zu wählen. Die Wahllokale waren
regulär von 8.00 bis 18.00 Uhr Ortszeit (6.30 bis 16.30 Uhr MESZ) geöffnet. Das
Innenministerium verlängerte die Möglichkeit abzustimmen am Abend bis 22.00 Uhr
Ortszeit (20.30 Uhr MESZ). Die Wahl folgt auf den Tod Raisis, der im Mai bei
einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen war. Wenn keiner der Bewerber mehr
als 50 Prozent der Stimmen gewinnt, geht es für die beiden stärksten Kandidaten
am 5. Juli in eine Stichwahl.

Der sogenannte Wächterrat, ein mächtiges islamisches Kontrollgremium, hatte
nur sechs Kandidaten für die Wahl zugelassen. Zwei Bewerber zogen sich jedoch
zurück. Die sogenannten Fundamentalisten - loyale und erzkonservative Anhänger
des Systems - sind am stärksten vertreten. Unter ihnen brennt ein Machtkampf
zwischen dem amtierenden Parlamentspräsidenten Mohammed Bagher Ghalibaf und dem
Hardliner Said Dschalili. Als wichtigster Herausforderer gilt der moderate
Politiker Massud Peseschkian.

Konservatives Lager gespalten - Hoffnung bei Reformpolitikern

Ghalibaf, früherer General der mächtigen Revolutionsgarden, gilt als
konservativer Machtpolitiker. Dschalili vertritt radikalere Positionen. Er
gehörte früh zum engsten Machtzirkel und arbeitete im Büro des Religionsführers
Ajatollah Ali Chamenei. Unter dem umstrittenen früheren Präsidenten Mahmud
Ahmadinedschad war Dschalili Chefunterhändler bei den Atomverhandlungen. Bis
zuletzt hatten Regierungsanhänger und Fundamentalisten gehofft, sich auf einen
Spitzenkandidaten einigen zu können.

Als gefährlichster Herausforderer gilt der moderate Politiker und frühere
Gesundheitsminister Massud Peseschkian. Im Wahlkampf kritisierte der Politiker
die Kopftuchpolitik und warb mit bürgerlichen Positionen für Stimmen.
Gleichzeitig bekundete Peseschkian seine Loyalität für Chamenei, die mächtigen
Revolutionsgarden und lobte den Angriff mit Drohnen und Raketen auf Israel als
Stolz der iranischen Nation. Nach seiner Stimmabgabe sagte er: "Wir werden
versuchen, mit allen Ländern freundschaftliche Beziehungen zu pflegen, außer mit
Israel."

Bei einer hohen Wahlbeteiligung dürften Peseschkians Chancen gar nicht
schlecht sein. Insbesondere, wenn es in die Stichwahl geht und sich das
iranische Volk zwischen einem Konservativen und Reformer entscheiden müsste. Der
Präsident hat im Iran als Regierungsoberhaupt nur eingeschränkte Macht.
Staatsoberhaupt ist der 85 Jahre alte Religionsführer Chamenei, der in allen
strategischen Belangen das letzte Wort hat.

Wenig Hoffnung auf große innenpolitische Änderungen

Den Glauben an große innenpolitische Veränderungen haben die meisten
Landesbewohner, vor allem junge Menschen, verloren. Der Tod der jungen Kurdin
Jina Masa Amini im Herbst 2022 entfachte landesweite Proteste gegen das
islamische Herrschaftssystem. Die Wahlbeteiligung bei der diesjährigen
Parlamentswahl erreichte ein Rekordtief von rund 40 Prozent. Bei
Präsidentenwahlen gehen traditionell jedoch mehr Menschen wählen. Einige
Aktivisten sowie die inhaftierte Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi
riefen zum Boykott der Wahl aufgerufen.

Im Wahlkampf debattierten die Kandidaten vor allem über Wege, die enorme
Wirtschaftskrise im Land zu bewältigen. Der Iran ist wegen seines umstrittenen
Atomprogramms mit internationalen Sanktionen belegt und vom weltweiten
Finanzsystem weitgehend abgeschnitten. Das Land benötigt Investitionen in
Milliardenhöhe. Daneben diskutierten die Bewerber über innenpolitische Themen,
Kulturpolitik und den Umgang mit dem Westen.

Irans politisches System vereint seit der Revolution von 1979
republikanische und auch theokratische Züge. Freie Wahlen gibt es jedoch nicht:
Das Kontrollgremium des Wächterrats prüft Kandidaten stets auf ihre Eignung.
Eine grundsätzliche Kritik am System wird nicht geduldet, wie die
Niederschlagung von Protesten in den vergangenen Jahren zeigte./apo/DP/mis

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