08.07.2024 06:00:19 - dpa-AFX: Wie geht es nach der Wahl in Frankreich weiter?

PARIS (dpa-AFX) - Die Ereignisse bei der Parlamentswahl in Frankreich haben
sich überschlagen. Überraschend gewinnt das linke Lager. Die Rechtsnationalen
legen zu, haben aber keine Chance auf eine eigene Regierung. Und der Premier
kündigt an, zurücktreten zu wollen. Wie es in Frankreich nun weitergeht:

Kommt das Linksbündnis jetzt an die Macht?

Das zumindest fordern die Spitzen des Bündnisses Nouveau Front Populaire als stärkste Kraft in der Nationalversammlung. Als Präsident obliegt es Emmanuel
Macron, den Premierminister zu ernennen. Noch ist nicht klar, ob er das
Rücktrittsgesuch von Premier Gabriel Attal annehmen wird. Auch, wen er in einem
solchen Fall mit der Regierungsbildung beauftragt, ist nicht abzusehen.

Trotz ihres Überraschungserfolgs bleiben die Linken weit von einer absoluten Mehrheit entfernt. Damit könnten die anderen Fraktionen eine linke Regierung
nicht nur per Misstrauensvotum stürzen. Auch haben die vergangenen zwei Jahre,
in denen das Macron-Lager nur eine relative Mehrheit in der Parlamentskammer
hatte, gezeigt, wie schwer es in Frankreich ist, ohne absolute Mehrheit zu
regieren. Ob dies den Linken besser gelingen würde, ist unklar, zumal sie noch
über weit weniger Sitze verfügen dürften als Macrons Mitte-Kräfte vor der
Auflösung der Nationalversammlung vor wenigen Wochen.

Theoretisch ist auch eine Koalition aus Linken und Mitte-Kräften möglich.
Aus dem Linksbündnis heraus kamen jedoch bereits klare Absagen an eine solche
Allianz.

Welchen Zeitplan gibt es für die Regierungsbildung?

Hierzu gibt es keine genauen Vorgaben. Macron könnte mit der Ernennung eines Premiers auch bis nach der parlamentarischen Sommerpause warten. Allerdings
kommt das neu gewählte Parlament am 18. Juli zu seiner ersten Sitzung zusammen.
Dabei wird die Parlamentspräsidentin oder der Parlamentspräsident gewählt. Am
Folgetag wird über die Vizepräsidenten und die Besetzung von Ausschüssen
entschieden.

Was passiert, wenn keine Regierung gefunden wird?

Wenn keines der politischen Lager eine absolute Mehrheit erhält oder in
einer Koalition oder unter Duldung zur Bildung einer Regierung in der Lage ist,
kann Macron Premierminister Gabriel Attal trotz dessen Rücktrittsankündigung
bitten, mit der aktuellen Regierung zunächst geschäftsführend im Amt zu bleiben.
Diese Übergangszeit kann etliche Wochen dauern, auch mit Blick auf die
Olympischen Spiele, die am 26. Juli in Paris starten, sowie die politische
Sommerpause. Macron könnte dann eine aus Experten, hohen Verwaltungskräften und
Ökonomen zusammengestellte technische Regierung bilden. Eine Auflösung des
Parlaments und Neuwahlen sind erst in einem Jahr wieder möglich.

Was sind die Auswirkungen auf Deutschland und Europa?

Das ist nicht klar. Das Linksbündnis hat die Führungsfrage bisher offen
gelassen und auch kein gemeinsames Programm. Insofern ist noch nicht ausgemacht,
welche Politik es umsetzen will, wenn es an die Regierung kommt. Fest steht
aber, dass das Bündnis bis auf einzelne Teile am linken Rand klar proeuropäisch
eingestellt ist und auch fest zur Unterstützung der Ukraine gegen den russischen
Angriffskrieg steht.

Bei politischem Stillstand in Frankreich könnten Berlin und Brüssel nicht
weiter auf Frankreich als starken Partner setzen. Das Land wäre mehr auf das
Verwalten als auf das Anstoßen neuer Vorhaben ausgerichtet.

Profitieren Le Pens Rechtsnationale dennoch vom Wahlausgang?

Auch wenn das Rassemblement National anders als prognostiziert nicht
stärkste Kraft geworden ist und selbst hinter dem Präsidentenlager landen
könnte, verbucht die Partei von Marine Le Pen erhebliche Zugewinne in der
Nationalversammlung. Sie ist dort stärker denn je vertreten. Damit wächst der
Einfluss der Partei in der Parlamentsarbeit und sie erhält mehr Geld aus der
Parteienfinanzierung, mit dem sie bereits die Vorbereitung der
Präsidentschaftswahl 2027 und der spätestens dann auch anstehenden nächsten
Parlamentswahl vorbereiten kann.

Was ist mit Macron?

Ob Macron noch etwas von seinem ursprünglichen Anspruch als Frankreichs
Reformer und Verfechter eines starken Europas wird retten können, wird sich in
den nächsten Tagen und Wochen zeigen. Sollte es ihm mit Taktieren und
Zugeständnissen entgegen der überwiegenden Erwartung gelingen, eine auf Dauer
regierungsfähige Mehrheit unter Beteiligung seines Regierungslagers auf die
Beine zu stellen, käme er möglicherweise noch mit einem blauen Auge davon. Da es
aber bereits in den vergangenen zwei Jahren unter wesentlich klareren
Machtverhältnissen nicht gelang, eine Koalition zu schmieden, wird Macrons
bleibende Amtszeit möglicherweise eher aus dem Verwalten instabiler Verhältnisse
und Stillstand in Frankreich bestehen. Innen- und außenpolitisch wäre er
geschwächt. Obwohl ein Sieg der Rechtsnationalen bei der Parlamentswahl
verhindert wurde, hat Macron sich und seinem Vermächtnis durch die Neuwahl mehr
geschadet als geholfen./evs/DP/zb

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