24.06.2024 16:02:49 - dpa-AFX: ROUNDUP 2: Was bringt der neue Anlauf für Organspenden?

(aktualisierte Fassung)

BERLIN (dpa-AFX) - Im Ringen um mehr lebensrettende Organspenden kommt ein
neuer Anlauf für Änderungen der Spenderegeln in Gang. Eine Abgeordnetengruppe
stellte am Montag eine fraktionsübergreifende Initiative im Bundestag vor, die
auf die Einführung einer Widerspruchsregelung zielt. Das hieße, dass zunächst
alle als Organspender gelten - außer jenen, die aktiv widersprechen. Derzeit
sind Organentnahmen in Deutschland nur mit ausdrücklicher Zustimmung erlaubt.
Ein erster Anlauf für eine solche Reform war 2020 gescheitert.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) unterstützt den neuen Versuch, um das
"Sterben auf der Warteliste" zu beenden.

Mehr Organe wie Nieren, Lebern oder Herzen für schwer kranke Patienten
werden seit Jahren dringend benötigt. Im vergangenen Jahr gaben 965 Menschen
nach ihrem Tod ein Organ oder mehrere Organe für andere frei, wie die
koordinierende Deutsche Stiftung Organtransplantation ermittelte. Zugleich
standen aber 8400 Menschen auf Wartelisten. Damit Spenden überhaupt infrage
kommen, müssen zwei Fachärzte unabhängig voneinander den Hirntod eines
Verstorbenen feststellen.

Lauterbach: "Müssen uns ehrlich machen"

Die SPD-Politikerin Sabine Dittmar sagte bei der Vorstellung der neuen
Initiative in Berlin: "Wir sind schlicht und ergreifend nicht zufrieden mit den
Zahlen." Seit Jahren stagnierten Organspenden trotz vieler Maßnahmen für bessere
Bedingungen auf niedrigem Niveau. "Täglich versterben uns drei Menschen auf der
Warteliste." Lauterbach, der den Antrag als Abgeordneter schon unterzeichnet
hat, sagte: "Wir müssen uns ehrlich machen: Ohne dass wir allen zumuten, sich
mit diesem Thema auseinanderzusetzen, werden die Organspendezahlen nicht
signifikant steigen."

Die CDU-Abgeordnete Gitta Connemann sagte, die Widerspruchslösung sei kein
Allheilmittel, stehe aber für einen Mentalitätswechsel: "Keine aktive
Dokumentation der Zustimmung, sondern eine aktive Dokumentation des
Widerspruchs." Peter Aumer von der CSU sagte, das bisherige System sei "auf
Nicht-Spenden gestellt". Die Linke Petra Sitte warb dafür, die Perspektive der
Wartenden einzunehmen, was auch eine Gerechtigkeitsfrage sei. Der Freidemokrat
Christoph Hoffmann sagte, sollten die Pläne scheitern, gäbe es als Variante noch
eine verpflichtende Bürger-Abfrage.

Gesetzentwurf für neues System

Konkret soll das Transplantationsgesetz geändert werden, das die Entnahme
von Organen derzeit nur zulässt, wenn der Spender oder die Spenderin
eingewilligt hat. Künftig sollen Organentnahmen laut Entwurf möglich sein, wenn
Volljährige und Einwilligungsfähige "nicht widersprochen" oder "eingewilligt"
haben. "Zentral ist weiterhin das Recht der oder des Einzelnen, sich für oder
gegen eine Organ- oder Gewebespende zu entscheiden." Vorgesehen ist eine
umfassende Aufklärung und Information vor Inkrafttreten des Gesetzes und
fortlaufend auch danach. Vorab sollen alle ab 18 Jahren einmal schriftlich über
die neuen Regeln informiert werden.

"Der Möglichkeit eines Widerspruchs kommt in Zukunft eine besondere
Bedeutung zu", heißt es im Entwurf. Ein erklärter Widerspruch müsse verlässlich
und jederzeit auffindbar sein und vor einer Entscheidung über eine Organentnahme
berücksichtigt werden. Dokumentieren könne man ein Ja oder Nein in einem neuen
Online-Register, einem Organspendeausweis, einer Patientenverfügung oder anders
schriftlich oder mündlich. Vor einer Organentnahme sollen auch Angehörige
gefragt werden - aber nur als Boten eines ihnen bekannten Willens. Ihnen werde
die Last genommen, den "mutmaßlichen Willen" Verstorbener zu interpretieren,
sagte Armin Grau (Grüne).

Für Minderjährige sollen die Eltern einen Widerspruch erklären können.
Gedacht ist auch an eine Regelung für Urlauber und andere, die nur vorübergehend
im Land sind: Wenn keine Erklärung vorliegt, soll in den ersten zwölf Monaten
nach Einreise der nächste Angehörige zustimmen müssen, danach gilt die
Widerspruchsregelung.

Entscheidung vor der Bundestagswahl

Einen Beschluss im Bundestag strebt die Abgeordnetengruppe noch in dieser
Wahlperiode möglichst bis zum Frühjahr 2025 an. Bis die neuen Regeln greifen,
dürfte es dann wegen nötiger Vorbereitungen aber bis 2027 dauern. Zu erwarten
sei, dass es im Bundestag auch noch einen anderen Antrag gibt, sagte Connemann.
Folgen sollen dann eine offene Debatte im Plenum und eine Expertenanhörung.

Zu dem Vorstoß wurden auch schon Einwände laut. Die FDP-Rechtspolitikerin
Katrin Helling-Plahr warnte vor einem massiven Eingriff in das
Selbstbestimmungsrecht jedes Einzelnen. "Anstatt auf staatliche Bevormundung zu
setzen, sollten wir die selbstbestimmte Entscheidung über eine Spende
verbindlicher gestalten." Darüber, wie dies ausgestaltet werden könne, werde man
im Bundestag diskutieren. Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz,
Eugen Brysch, kritisierte in der "Augsburger Allgemeinen" (Montag): "Wer
schweigt, stimmt nicht automatisch zu."

Lauterbach hatte sich bereits 2020 wie der damalige Minister Jens Spahn
(CDU) im Bundestag für eine ähnliche Widerspruchslösung starkgemacht.
Beschlossen wurde aber ein Gesetz, das das Zustimmungsprinzip bestätigte. Es
sieht mehr Information und eine leichtere Dokumentation von Erklärungen zur
Spendebereitschaft vor. Ein zentrales Online-Register als Kernelement des
Gesetzes startete aber erst mit zwei Jahren Verspätung im März 2024. Eingetragen
wurden bisher 132 000 Erklärungen, wie das Bundesinstitut für Arzneimittel und
Medizinprodukte als Betreiber mitteilte./sam/DP/he

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