07.07.2024 14:51:10 - dpa-AFX: Erneut Demonstrationen in Israel für Geisel-Deal

TEL AVIV (dpa-AFX) - Bei erneuten landesweiten Protesten in Israel fordern
Tausende Menschen von ihrer Regierung ein Abkommen zur Freilassung der Geiseln
im umkämpften Gazastreifen. Auf den Tag genau neun Monate nach dem Massaker der
islamistischen Hamas in Israel kamen Demonstranten zu einem "Tag der Störung"
zusammen und begannen laut israelischen Medienberichten mit der Blockade von
Straßen und Kreuzungen im ganzen Land. Höhepunkt soll ein Massenprotest vor dem
Militärhauptquartier in Tel Aviv werden.

Die Hamas und andere Terrorgruppen hatten am 7. Oktober vergangenen Jahres
den Süden Israels überfallen, dabei 1200 Menschen ermordet und 250 weitere in
den Gazastreifen verschleppt. Die Proteste wurden durch Berichte geschürt,
wonach es nach langem Stillstand Fortschritte bei den von Katar, Ägypten und den
USA vermittelten Verhandlungen über die Freilassung der verbliebenen Geiseln und
eine Waffenruhe gibt.

Bereits am Vorabend hatten Zehntausende Menschen in Israel die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu aufgefordert, den indirekten Verhandlungen
endlich zum Erfolg zu verhelfen. Die Gespräche sollen kommende Woche fortgesetzt
werden.

Demonstranten fordern Neuwahlen

Jehuda Cohen, dessen Sohn sich weiterhin in der Gewalt der Entführer
befindet, beschuldigte die Regierung, ein Abkommen vereiteln zu wollen. "Wir
wissen, dass sich nach vielen Bemühungen nun eine Einigung abzeichnet, und wir
können bereits hören, wie die Minister Drohungen ausstoßen und sich wünschen,
dass die Einigung scheitert", sagte er laut der israelischen Zeitung "Haaretz".
Netanjahu regiert mit ultra-religiösen und rechtsextremen Koalitionspartnern,
die Zugeständnisse an die Hamas ablehnen.

Netanjahu, gegen den schon seit langem ein Korruptionsprozess läuft, ist für sein politisches Überleben auf diese rechtsextremen Koalitionspartner
angewiesen. Bei den erneuten Demonstrationen forderten die Menschen im ganzen
Land die Ausrufung von Neuwahlen.

Zum Auftakt der Protestkundgebungen am "Tag der Störung" versammelten sich
Aktivisten am Morgen nahe der Grenze zum Gazastreifen, um schwarze und gelbe
Luftballons steigen zu lassen, wie die "Times of Israel" berichtete. Die Farbe
Gelb dient als Symbol für das Schicksal der Geiseln. Die Ballons waren an
Schildern angebracht, die die Gemeinden repräsentieren, die am 7. Oktober 2023
überfallen worden waren. Nach israelischer Schätzung befinden sich noch rund 120
Geiseln in der Gewalt der Entführer, viele dürften allerdings nicht mehr am
Leben sein.

Hamas will Garantien

Verhandelt wird ein Stufenplan, der zunächst eine zeitlich befristete
Waffenruhe sowie den Austausch von weiblichen, älteren und kranken Geiseln gegen
eine größere Zahl palästinensischer Häftlinge in israelischen Gefängnissen
vorsieht. Während der Waffenruhe sollen die Seiten über die Beendigung des
Krieges und die Freilassung der restlichen Geiseln verhandeln.

Bislang machte die Hamas zur Bedingung, dass Israel sich vorab zum Ende
aller Kampfhandlungen verpflichtet. Von dieser Kernforderung soll sie laut
Medien abgerückt sein.

Zugleich aber würden die Islamisten auf eine schriftliche Zusage seitens der Vermittler dringen, dass die Phase der Verhandlungen - und damit die befristete
Waffenruhe - ohne zeitliche Begrenzung fortgesetzt wird, wenn es in der
vorgesehenen Frist zu keiner Einigung kommt. Diese Forderung der Hamas sei ein
entscheidender Punkt, bevor sich die Vermittler an den Tisch setzen könnten, um
die Einzelheiten eines Abkommens auszuhandeln, berichtete das
US-Nachrichtenportal "Axios" unter Berufung auf zwei israelische Beamte.

Bericht: Palästinenser hoffen auf inhaftierten Barguti

Ungewiss ist auch die Frage, wie es nach dem Ende des Krieges mit Gaza
weitergeht. Laut einem Bericht des "Wall Street Journal" setzen viele
Palästinenser Hoffnungen auf den in Israel inhaftierten Politiker Marwan
Barguti. Er gehört der Palästinenser-Partei Fatah an, die die im Westjordanland
regierende Palästinensische Autonomiebehörde (PA) dominiert, und war Berater des
verstorbenen Palästinenserführers Jassir Arafat. Die Fatah und die Hamas sind
die zwei größten Palästinenserorganisationen - und erbitterte Rivalen. Seit
einigen Jahren gibt es aber Versöhnungsgespräche zwischen den beiden
Organisationen.

Barguti war 2004 in Israel wegen Mordes zu fünfmal lebenslänglich verurteilt worden. Für seine Anhänger sei Barguti ein Freiheitskämpfer wie Nelson Mandela,
so das "Wall Street Journal". Seine Popularität unter Palästinensern beruhe auf
seinem Image als Befürworter von Gewalt gegen Israel, aber auch als Pragmatiker,
der ein dauerhaftes Friedensabkommen anstrebe. Bargutis Bedeutung zeige sich in
der Forderung der rivalisierenden Hamas, ihn im Rahmen eines Austauschs
palästinensischer Häftlinge gegen israelische Geiseln im Gazastreifen
freizulassen, berichtete die Zeitung unter Berufung auf arabische Vermittler.

Die USA wollen Autonomiebehörde in Gaza

2007 hatte die Hamas mit Gewalt die alleinige Kontrolle im Gazastreifen an
sich gerissen und die Fatah aus dem Gebiet vertrieben. Mahmud Abbas, Präsident
der Autonomiebehörde PA und Vorsitzender der Fatah, regiert seitdem de facto nur
noch im Westjordanland. Die USA als Israels wichtigster Verbündeter wollen, dass
die Autonomiebehörde umgestaltet wird und künftig auch im Gazastreifen wieder
die Kontrolle übernimmt. Netanjahu lehnt dies aber ab.

Barguti sei der einzige palästinensische Führer, der breite Unterstützung in Gaza wie auch im Westjordanland genieße, im Gegensatz zur dezimierten Hamas und
zur PA, so das "Wall Street Journal". Das zeige auch eine kürzliche
palästinensische Umfrage im Westjordanland.

Auch in Israel sähen einige in Barguti trotz seiner Vergangenheit einen
möglichen Schlüssel zum Frieden, hieß es weiter. "Wenn wir wirklich nach einer
Lösung suchen, sollten wir nach ihm Ausschau halten", zitierte die US-Zeitung
einen früheren Direktor des israelischen Geheimdienstes Mossad. Israels
konsequente Weigerung, Barguti aus der Haft zu entlassen, zeige jedoch, wie weit
beide Seiten von einer Einigung entfernt seien, schrieb die Zeitung./ln/DP/he

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