28.06.2024 06:30:04 - dpa-AFX: ROUNDUP/Fast am Ziel: EU-Gipfel nominiert von der Leyen als Kommissionschefin

BRÜSSEL (dpa-AFX) - Ursula von der Leyen hat eine wichtige Hürde für eine
weitere Amtszeit als Präsidentin der Europäischen Kommission genommen. Die
Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten stimmten beim EU-Gipfel in Brüssel
mit großer Mehrheit den Personalvorschlägen der großen europäischen
Parteienfamilien zu. "Ich bin den Staats- und Regierungschefs dankbar, dass sie
meine Nominierung für eine zweite Amtszeit unterstützen", sagte die
CDU-Politikerin und frühere Bundesministerin in der Nacht zum Freitag.

Zudem wurde bei dem Gipfel eine strategische Agenda mit den Zielen für die
EU für die kommenden Jahre beschlossen und entschieden, den EU-Beitrittsprozess
von Georgien wegen des Kurses der Regierung dort vorerst auf Eis zu legen.

Wie es für von der Leyen weitergeht

Bevor von der Leyen ihre zweite Amtszeit antreten kann, muss sie nun noch
eine Mehrheit des Europäischen Parlaments hinter sich bringen. Die Abstimmung in
Straßburg könnte schon Mitte Juli stattfinden. Von der Leyen kündigte in der
Nacht zum Freitag an, in den nächsten Wochen mit unterschiedlichen Parteien und
Gruppen reden zu wollen. Wichtig für sie sei, dass diese pro-europäisch,
pro-ukrainisch und pro Rechtsstaatlichkeit seien.

Gestützt wird die CDU-Politikerin auf jeden Fall von einem informellen
Bündnis mit dem Mitte-Rechts-Bündnis EVP, den Sozialdemokraten und den
Liberalen, das theoretisch eine komfortable Mehrheit von etwa 400 der 720
Stimmen hat. Es gilt aber als möglich, dass eine Reihe von Abgeordneten der
Deutschen in der geheimen Wahl die Stimme verweigert. Bundeskanzler Olaf Scholz
zeigte sich trotzdem zuversichtlich, dass von der Leyen gewählt wird. "Die
Präsidentin hat ja doch einen ganz guten Ruf im Parlament", sagte der
SPD-Politiker nach dem Treffen.'

Von der Leyen ist bereits seit 2019 Kommissionspräsidentin und damit Chefin
von rund 32 000 Mitarbeitern, die unter anderem Vorschläge für neue EU-Gesetze
machen und die Einhaltung der Europäischen Verträge überwachen. Zudem sitzt die
aus Niedersachsen stammende Politikerin bei fast allen großen internationalen
Gipfeltreffen wie G7 oder G20 als EU-Repräsentantin mit am Tisch.

Das neue EU-Spitzentrio

Im Europäischen Rat war die Vergabe der Spitzenposten dank einer Einigung
der großen europäischen Parteienfamilien schon vor Gipfelbeginn so gut wie
sicher gewesen. Nächster Ratspräsident wird der frühere portugiesische
Regierungschef António Costa. Die estnische Regierungschefin Kaja Kallas ist als
EU-Außenbeauftragte vorgesehen.

Costa galt jahrelang als der europäische Vorzeige-Sozialist schlechthin. Er
ist Sohn eines bekannten Schriftstellers aus dem indischen Goa und schaffte als
Chef einer Minderheitsregierung einen kurz nach der Eurokrise als unmöglich
geltenden Spagat: Er lockerte die Sparzügel und erhöhte Sozialausgaben und
öffentliche Investitionen, doch gleichzeitig schaffte er es, die Staatsfinanzen
zu konsolidieren.

Als der 62 Jahre alte Jurist im vorigen November im Zuge eines
Korruptionsskandals als Ministerpräsident von Portugal zurücktrat, schien seine
politische Karriere am Ende. Die Ermittler allerdings hatten unsauber
gearbeitet, inzwischen heißt es, Costa und weitere Verdächtige hätten sich
nichts zuschulden kommen lassen.

Kallas steht seit 2021 als erste Frau in Estlands Geschichte an der
Regierungsspitze - und gilt als Verfechterin einer resoluten Haltung des Westens
gegenüber Moskau. Mit klarer Kante und unerschütterlichem Beistand für Kiew hat
sich die 47-Jährige international einen Namen gemacht - sie wurde schon als
"Europas neue eiserne Lady" tituliert.

Die Juristin hat Politik im Blut: Ihr Vater Siim Kallas war früher Estlands
Ministerpräsident und lange Jahre EU-Kommissar. Sie selbst verbrachte vier Jahre
in Brüssel - als Europa-Abgeordnete von 2014 bis 2018. Auch als mögliche neue
Nato-Generalsekretärin wurde die Liberale gehandelt. Es gab allerdings die
Sorge, sie könnte sich künftig ausschließlich auf Russland und den Ukraine-Krieg
konzentrieren.

Gereizte Stimmung vor der Nominierung

Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni zeigte sich indes erbost über den Nominierungsprozess. Sie kritisierte, dass sie trotz des guten
Ergebnisses ihrer Partei Fratelli d'Italia (Brüder Italiens) bei der Europawahl
nicht direkt an den Gesprächen über das Personalpaket beteiligt wurde. Der
Vorgang sei in seiner Methode und seinem Inhalt falsch, schrieb die rechte
Politikerin nach dem Gipfel auf X. Aus Respekt vor den Bürgerinnen und Bürgern
könne sie dieses Verfahren nicht unterstützen.

Auch Ungarns Regierungschef Viktor Orbán wetterte dagegen. Beim Gipfel
versuchten mehrere Regierungschefs, die Wogen zu glätten und erklärten, dass es
nicht darum gegangen sei, jemanden auszugrenzen.

Die Zustimmung der beiden Länder wurde aber auch nicht benötigt, da keine
Einstimmigkeit erforderlich war. Es mussten lediglich mindestens 20 EU-Staaten
zustimmen, die gleichzeitig mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten.
Scholz verteidigte die Absprache der großen Parteienfamilien: Der Europäische
Rat habe einen Vorschlag machen müssen, der im Parlament auch eine Mehrheit
finden könne.

Was die EU in den nächsten fünf Jahren vorhat

Neben den Personalien beschloss der Gipfel über eine neue strategische
Agenda, dass die EU in militärischen Belangen unabhängiger werden und ihre
Rüstungsindustrie stärken soll. Um die EU effizient vor Bedrohungen aus Ländern
wie China oder Russland schützen zu können, braucht es nach Schätzungen der
Europäischen Kommission im nächsten Jahrzehnt zusätzliche Investitionen in Höhe
von rund 500 Milliarden Euro.

Deutschland und Frankreich wollten eigentlich noch mehrere Änderungen in den Text einbringen, konnten sich aber nicht durchsetzen. Scholz kritisierte die
Agenda als zu wenig ambitioniert. Unter anderem bei den Themen
Wettbewerbsfähigkeit und Klimaschutz habe sich Deutschland mehr vorstellen
können. Nicht akzeptiert habe er gemeinsame Schulden zur Rüstungsfinanzierung
und die Refinanzierung nationaler Verteidigungshaushalte aus dem Budget der
Europäischen Union, betonte der Kanzler./tam/DP/zb

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