12.07.2024 06:20:08 - dpa-AFX: Heusgen: Regierung muss Tacheles reden zu Gefahr durch Russland

WASHINGTON (dpa-AFX) - Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph
Heusgen, kritisiert den Großteil der Bundesregierung von Kanzler Olaf Scholz
(SPD) für ihre Kommunikation zum Ukraine-Krieg. "In Deutschland redet der
Verteidigungsminister Tacheles und spricht davon, dass wir kriegstüchtig werden
müssen", sagte der frühere außenpolitische Berater von Kanzlerin Angela Merkel
(CDU) der Deutschen Presse-Agentur in Washington. Dessen Kabinettskollegen
unterschätzten aber immer noch den Ernst der Lage.

"Ich habe bis heute das Gefühl, dass die meisten verantwortlichen Politiker
glauben, dass sie der Bevölkerung keinen reinen Wein einschenken und sagen
können: 'Wir haben es mit einer Aggression wie im Kalten Krieg zu tun'",
beklagte er. "Es gibt da eine gewisse Zögerlichkeit und den Glauben, dass man
der Bevölkerung das nicht zumuten kann."

Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), der sich sehr intensiv mit
Militärfragen beschäftige und sehe, was Russland tue, habe seine Worte
wohlüberlegt, sagte Heusgen. Pistorius beobachte, wie aggressiv Russland sei und
dass Deutschland darauf Antworten finden müsse. "Es überrascht mich auch
überhaupt nicht, dass er den jüngsten Kabinettsbeschluss im Hinblick auf den
Haushalt des nächsten Jahres als "ärgerlich' bezeichnet, weil er sieht, dass
seine Kabinettskollegen die Dramatik der Situation, nämlich die Aggression
Russlands, immer noch unterschätzen."

Pistorius sei inzwischen der beliebteste Politiker in Deutschland, der die
größte Glaubwürdigkeit habe, sagte Heusgen. Scholz dagegen habe bis heute nicht
wieder jene Zustimmungsquoten erhalten, wie er sie nach seiner Zeitenwende-Rede
erreicht habe. Der Kanzler hatte Ende Februar 2022 kurz nach dem Beginn des
russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine eine Regierungserklärung abgegeben
und darin betont, der Tag des russischen Einmarsches markiere "eine Zeitenwende
in der Geschichte unseres Kontinents".

Heusgen sagte, Kremlchef Wladimir Putin habe sich zum Ziel gesetzt, die alte Sowjetunion wiederherzustellen. "Bei uns wird das alles noch immer ein bisschen
heruntergespielt", beklagte er: "Wir sind in unseren politischen Stellungnahmen
in Deutschland immer noch besänftigend. Vielleicht hat man Angst davor, den
Leuten klar zu sagen, was Sache ist."

"Man muss den Menschen reinen Wein einschenken und ihnen klar sagen, was
Russland alles an Verträgen gebrochen hat, wie Russland aufrüstet, dass Russland
in Kaliningrad nuklearfähige Raketen stationiert hat, die Deutschland erreichen
können", mahnte Heusgen. "Das weiß der normale Deutsche nicht."

Putin habe bewiesen, wie aggressiv er sei. "Und es ist nur richtig, dass wir jetzt unsererseits Konsequenzen ziehen", sagte er mit Blick auf die geplante
Stationierung von US-Marschflugkörpern mit einer Reichweite von bis zu 2500
Kilometern in Deutschland ab 2026. Die USA wollen damit erstmals seit dem Kalten
Krieg wieder Waffensysteme in Deutschland stationieren, die bis nach Russland
reichen. Heusgen betonte: "Mit jemandem wie Wladimir Putin kann man nur aus
einer Position der Stärke verhandeln."/jac/DP/stk

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