28.06.2024 09:30:03 - dpa-AFX: HINTERGRUND/Hat sich Macron verzockt? Nach Wahl droht politisches Chaos

PARIS (dpa-AFX) - Er tritt an, um zu gewinnen. Das zumindest versichert
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vor der Parlamentswahl immer wieder
kampfeslustig. Doch wie der Liberale bei der Neuwahl der Nationalversammlung an
diesem Sonntag seine Mehrheit auch nur beisammenhalten - geschweige denn
ausbauen - will, das vermag in Frankreich derzeit kaum jemand zu erklären.

Die Umfragen jedenfalls sind eindeutig: Macrons Mitte-Kräfte dürften in der
ersten Runde deutlich hinter Marine Le Pens Rechtsnationalen und dem
Linksbündnis auf Platz drei landen. Damit hätten sie auch schlechte Karten für
die entscheidende zweite Wahlrunde am 7. Juli. Auf die Wahl könnten politisches
Chaos und Stillstand folgen - oder gar eine Regierung der Rechtsnationalen. Es
ist eine Schicksalswahl, die auch bestimmt, wie viel Macht Macron behält. Die
Wahlbeteiligung kündigt sich mit knapp 65 Prozent entsprechend hoch an.

Unter Druck geratener Macron zog Reißleine

Wie nur ist Frankreich in diese Situation geschlittert? Macrons Mitte-Lager
steht bereits seit zwei Jahren unter Druck. Es hat seine absolute Mehrheit in
der Nationalversammlung verloren, die wichtig ist zum Regieren in dem auf
Konfrontation ausgerichteten französischen Parlamentsbetrieb. Im Frühjahr war
bereits gemunkelt worden, dass im Herbst versucht werden soll, die Regierung mit
einem Misstrauensvotum zu Fall zu bringen. Dann der haushohe Sieg des
rechtspopulistischen RN bei der Europawahl Anfang Juni. Der mitunter stürmische
Macron wollte wohl die Flucht nach vorne antreten und auf die vermeintliche
Schwäche der anderen setzen.

Seitdem haben sich die Ereignisse in Frankreich überschlagen. Das
zerstrittene linke Lager raufte sich überraschend zusammen. Es bildete in
Rekordzeit das Bündnis Nouveau Front Populaire, das in Umfragen zuletzt bei rund
29 Prozent lag. Der de-facto-Chef der konservativen Républicains Éric Ciotti
kündigte an, mit den Rechtsnationalen gemeinsame Sache zu machen. Er übertrat
damit eine jahrzehntelange rote Linie des bürgerlichen Lagers und spaltete seine
Partei.

Macron hatte wohl auf Zerstrittenheit und Chaos bei seinen politischen
Opponenten gesetzt. Doch zumindest mit Blick auf die erneut solide Linke meint
die Politikwissenschaftlerin Isabelle Guinaudeau von der Sciences Po im Gespräch
mit der Deutschen Presse-Agentur, Macron habe die Möglichkeit des
Zusammenschlusses unterschätzt.

Der Wahlforscherin zufolge dürfte Macron gehofft haben, dass ihm das
komplizierte Wahlsystem in die Karten spielt. Denn: Kaum ein Sitz im
französischen Unterhaus wird in der ersten Wahlrunde vergeben. Entscheidend ist
fast überall die Stichwahl eine Woche später. "Sein Kalkül war, dass die Partei
von Le Pen wahrscheinlich in der ersten Runde oft den ersten Platz einnehmen
wird. (...) Aber er hat damit gerechnet, dass seine Partei an zweiter Stelle
kommt." Macron habe dann Druck auf alle anderen ausüben wollen, gemeinsam gegen
die Rechtsnationalen zu stimmen, und mit Hilfe der Brandmauer gegen rechts
abermals eine Wahl gewinnen wollen. Wahrscheinlich sei nun aber, dass Macrons
Mitte-Kandidaten in der zweiten Runde vielerorts gar nicht mehr dabei seien,
schätzt Guinaudeau.

Setzt Macron auf Entzauberung?

Liegt die prekäre Situation, in die sich Macron manövriert hat, an
Selbstüberschätzung oder Naivität - oder ist sie am Ende gar Strategie? Auch
Guinaudeau sagt, sie frage sich, "ob Macron denkt, dass wenn das Rassemblement
National jetzt für drei Jahre an die Regierung kommt, die Leute merkten, dass es
die Probleme doch nicht so wunderbar lösen kann". Denn würde das RN die absolute
Mehrheit holen, wäre Macron wohl gezwungen, jemanden aus dessen Reihen zum
Premier zu machen. Es entstünde eine sogenannte Kohabitation. Vielleicht würde
das die Chancen reduzieren, dass Le Pen 2027 Präsidentin wird, so Guinaudeau.

Ihre Forschung habe ergeben, dass die Beliebtheit der französischen
Präsidenten nur dann nicht gesunken ist, wenn ein anderes Lager regiert hat.
"Vielleicht ist es Teil von seinem Kalkül." Macron hat nie einen Hehl daraus
gemacht, dass er auf keinen Fall als Wegbereiter einer rechtsnationalen
Präsidentin Le Pen in die Geschichte eingehen will. Bei den drei vorherigen
Kohabitationen in der jüngeren französischen Geschichte verlor der Premier bei
der anschließenden Präsidentschaftswahl. Ob Macron mit der riskanten
Parlamentsneuwahl nicht seinen Alptraum wahr macht und unfreiwillig zum
Steigbügelhalter der Rechtspopulisten wird, wird sich zeigen.

Rechtspopulisten wollen an die Macht

Die jedenfalls wittern schon Regierungsluft. Der blutjunge Parteichef Jordan Bardella inszeniert sich als anpackender und besonnener Staatsmann und träumt
davon, in wenigen Tagen mit gerade einmal 28 Jahren als jüngster französischer
Regierungschef Geschichte zu schreiben und sein RN endgültig als
gesellschaftlich akzeptierte Partei zu etablieren.

Sollten Bardella oder eine Figur der Linken wirklich Premier werden, würde
Macrons Macht erheblich schwinden. Während der Premier derzeit eher im Schatten
des Präsidenten steht, müsste Macron dann akzeptieren, dass die Regierung und
nicht er die Politik macht. Auch wenn der Präsident weiterhin das Prä in der
Außenpolitik hielte und Armeechef bliebe. Deutschland und Europa müssten sich
auf ein Frankreich einstellen, das mit zwei Stimmen spricht und auf das
international weniger Verlass wäre.

Chaos bei unklarer Mehrheit möglich

Möglich ist aber auch, dass am Ende der Wahl niemand als großer Sieger
dasteht und das Parlament noch gespaltener ist als zuletzt - wenn nämlich kein
Lager eine klare Mehrheit bekommt. Darauf deuteten Umfragen zuletzt hin.
Theoretisch könnten dann alle versuchen, mit Abgeordneten anderer Strömungen
eine Koalition zu bilden. Doch Guinaudeau meint: "Diese Blöcke sind so
polarisiert, dass man schwer sieht, wie man dann mit diesen Blöcken Mehrheiten
konstruiert." Und selbst wenn auf die Wahl Chaos, Stillstand und Blockade folgen
würden, müsste Frankreich dies aussitzen. Denn vor Juli 2025 kann auch Macron
die Nationalversammlung nicht erneut auflösen./rbo/DP/zb

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