01.07.2024 12:43:09 - dpa-AFX: EM 2024/Koeman in der Kritik: Oranjes EM-Stimmung ist gekippt

MÜNCHEN (dpa-AFX) - Über diese EM-Konstellation hätte sich noch vor einer
Woche jeder in den Niederlanden gefreut. Der Europameister von 1988 übersteht
die schwere Vorrundengruppe mit Vize-Weltmeister Frankreich und Geheimfavorit
Österreich und trifft im Achtelfinale bloß auf den Außenseiter Rumänien
(Dienstag, 18.00 Uhr/ARD und MagentaTV).

Und sollte das am Dienstag in München auch noch klappen, meint es der
sogenannte Turnierbaum mit Oranje weiter gut: Im Viertelfinale hießen die
möglichen Gegner erneut Österreich oder Türkei. Im Halbfinale ginge es gegen
schwächelnde Engländer oder die Schweiz. Niemand, vor dem sich die große
Fußball-Nation Niederlande ihrem eigenen Anspruch nach zu verstecken braucht.

Koeman noch der Richtige?

Dieser Anspruch ist nun aber offenbar ein Teil des Problems. Denn vor dem
Beginn der K.-o.-Runde wird Trainer Ronald Koeman wieder jeden Tagen daran
erinnert, dass er einen der herausforderndsten Jobs der Fußball-Welt hat. Seit
der 2:3-Niederlage im letzten Gruppenspiel gegen Österreich ist die anfangs
erwartungsfrohe EM-Stimmung in der Heimat in Richtung Gegenteil gekippt.

Schon bei der Pressekonferenz nach diesem schwachen Auftritt wurde Koeman
direkt gefragt, ob er als Bondscoach noch haltbar sei. "Ich denke, dass das
keine Frage für jetzt ist", sagte der EM-Held von 1988 darauf. "Es ist erst die
Vorrunde vorbei. Wir haben noch eine Chance. Wenn das nicht klappt, können Sie
die Frage noch einmal stellen."

In dieser Atmosphäre gehen die Niederländer nun in die entscheidende Phase
des Turniers. Und die Frage ist: Woher kommt dieser große Druck? Warum
verschliss Oranje in den vergangenen 25 Jahren elf verschiedene Nationaltrainer,
von denen Koeman, Louis van Gaal und Dick Advocaat gleich mehrere Amtszeiten
erlebten? Und warum kippt die Stimmung so leicht bei einem Team, dem Spieler von
der Qualität eines Marco van Basten, Dennis Bergkamp oder Arjen Robben doch
schon länger fehlen?

Experte Wormuth

Frank Wormuth leitete zehn Jahre lang die Trainerausbildung des Deutschen
Fußball-Bundes, ehe er 2018 in die Niederlande wechselte. Dort trainierte er die
Erstliga-Clubs Heracles Almelo und FC Groningen und dort lebt er in der Nähe von
Nijmegen noch heute. Nach der EM 2021 war er selbst als neuer Bondscoach im
Gespräch. Stattdessen wurde es zum dritten Mal van Gaal.

Über die Erwartungshaltung in seiner Wahlheimat sagt er: "Ja, es gibt in den Niederlanden diese Kritik: am planlosen Spiel. Dass dort keine Mannschaft auf
dem Platz steht." Aber die könne er auch verstehen.

"Diese Mannschaft ist gut", sagt Wormuth: "Van Dijk spielt in Liverpool. Aké spielt bei Manchester City. Gakpo auch bei Liverpool. Und Frimpong ist gerade
deutscher Meister geworden. Wenn die als Team auftreten und einer für den
anderen laufen würden, wären sie definitiv ein Kandidat für die besten Vier des
Turniers. Oder sogar für das Finale." So aber bilden die stimmungsvollen
Auftritte der Fans und die biederen Leistungen des Teams bei dieser EM bislang
einen starken Kontrast.

De-Jong-Ausfall tut weh

Diese starken Ausschläge haben für Wormuth zwei Gründe: einen rein
sportlichen und einen gesellschaftlichen. "Die eigentliche Herausforderung ist
der Ausfall von Frenkie de Jong", sagt er über den verletzten Mittelfeldspieler
des FC Barcelona. "De Jong ist eine Art Kroos von Holland, der Spielgestalter
schlechthin."

Und dann beschreibt der 63-Jährige noch aus eigener Erfahrung: "Es gibt in
den Niederlanden kein ausgeprägtes Hierarchiedenken, wie wir es in Deutschland
kennen." Im Alltagsleben nicht. Und in einem Fußballteam schon gar nicht.

"Spieler diskutieren sehr viel. Wollen ständig ihre Meinung äußern", sagt
Wormuth. "Das hat gesellschaftlich viele gute Seiten. Aber wenn im Fußball zu
viele Leute mitreden, wird es schwierig." Das habe er in den Niederlanden "am
Anfang etwas unterschätzt. Da wollte mir auch der Physiotherapeut sagen, was ich
zu tun habe." Aber das lässt die Diskussionen manchmal auch größer wirken, als
sie sind.

Kapitän Virgil van Dijk hat die Kritik nach der EM-Vorrunde jedenfalls
angenommen. "Wenn wir so weitermachen, haben wir hier nichts mehr zu suchen",
sagte er vor dem Rumänien-Spiel. "Aber wir haben immer noch das Gefühl, dass wir
aus diesem Turnier ein ganz besonderes machen können. Ich glaube an diese
Mannschaft. Wir haben viel Qualität. Die müssen wir aber endlich auch
zeigen."/sti/DP/men

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