24.06.2024 17:01:09 - dpa-AFX: ROUNDUP: Scholz kündigt Entlastungen für Firmen an - löst er die Handbremse?

BERLIN (dpa-AFX) - Es war eine Generalkritik: Zwei "verlorene Jahre" für den
Wirtschaftsstandort Deutschland warf Industriepräsident Siegfried Russwurm der
Bundesregierung vor, das Kanzleramt unterschätze offenbar den Ernst der Lage.
Der Kanzler konterte, sprach von "Turnaround-Jahren" und warnte davor, den
Standort schlechtzureden. Das war im April - zwei Monate später sind beide
Seiten am Montag beim Tag der Industrie in Berlin um Deeskalation bemüht.

Russwurm als Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI)
sagte, er habe vom Kanzler selten so oft die Worte Tempo und Geschwindigkeit
gehört. Scholz eröffnete seine Ausführungen damit, dass er bei der Rede
Russwurms häufig geklatscht habe. Der Kanzler umriss Punkte eines geplanten
Wachstumspakets. Aber Russwurm machte auch deutlich: Die Koalition muss nun
liefern.

Ampel vor wichtigen Weichenstellungen

Die deutsche Wirtschaft dümpelt vor sich hin, der BDI erwartet für 2024 nur
ein Mini-Wachstum von 0,3 Prozent. Schwaches Wachstum aber bedeute geringere
Spielräume im Staatshaushalt, sagte Russwurm. Um genau den geht es derzeit bei
den Verhandlungen in der Bundesregierung über den Haushalt 2025. Es müssen
Milliardenlöcher gestopft werden. Mehrere Ressorts wollen Sparvorgaben von
Finanzminister Christian Lindner (FDP) nicht einhalten. Die Koalition plant
außerdem ein "Dynamisierungspaket", um das Wachstum anzukurbeln.

Russwurm forderte die Ampel aus SPD, Grünen und FDP zu einem deutlichen
Signal für mehr Wachstum auf. Die Industrie stehe zum Standort Deutschland,
Firmen wollten investieren und wachsen. "Das geht aber nicht mit angezogener
Handbremse." Das angekündigte "Dynamisierungspaket" müsse seinem Namen gerecht
werden. Damit mehr Unternehmen investierten, müssten Abschreibungen erleichtert
werden. Zur Wunschliste zählen auch: weniger Bürokratie, schnellere
Genehmigungen, mehr Fachkräfte, geringere Unternehmenssteuern.

Scholz stellt Entlastungen in Aussicht

Russwurm sagte, im Kanzleramt gebe es ein klares Problembewusstsein.
Übersetzt bedeutet das: Die Regierungszentrale hat erkannt, dass etwas getan
werden muss, um das Wachstum anzukurbeln. In der Industrie hieß es hinter den
Kulissen, von einem "grünen" Wirtschaftswunder durch den klimafreundlichen Umbau
der Wirtschaft habe der Kanzler nicht mehr gesprochen - ein solches Wunder
erwarten auch die wenigsten in der Industrie.

Scholz sagte mit Blick auf das "Dynamisierungspaket", die Bundesregierung
wolle private Investitionen fördern. "Ich könnte mir vorstellen, dass wir in
Sachen Abschreibung und Forschungsförderung noch eine Schippe drauflegen auf
das, was uns mit dem Wachstumschancengesetz gelungen ist." Dafür sei aber auch
die Zustimmung der Länder notwendig.

Das Wachstumschancengesetz der Bundesregierung mit Entlastungen für Firmen
war nach einem Vermittlungsverfahren von Bundesrat und Bundestag vom Volumen her
deutlich geringer ausgefallen als geplant.

Kanzler: Mehr Arbeitsanreize

Der Kanzler sagte weiter, das Arbeitsangebot solle ausgeweitet werden, indem freiwilliges, längeres Weiterarbeiten deutlich attraktiver gemacht werde. Zudem
sollten die Erwerbstätigkeit von Eltern erleichtert und Arbeitsanreize erhöht
werden, auch steuerlich.

In der Industrie wird man genau hinschauen, was bei dem Paket am Ende
herauskommt - das beschlossene und im Vermittlungsverfahren zerrupfte Gesetz
bezeichnete Russwurm als "Wachstumschancengesetzchen".

Eines wird aber nicht kommen, wie Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne)
sagte: Milliardenschwere Sondervermögen zum Beispiel für die Sanierung der teils
maroden Infrastruktur. Solche kreditfinanzierten Sondervermögen außerhalb der
Schuldenbremse und unter bestimmten Voraussetzungen hatte der BDI vorgeschlagen.
Der Verband hält einen zusätzlichen öffentlichen Finanzierungsbedarf von bis zu
400 Milliarden Euro in den nächsten zehn Jahren für nötig, um den Standort zu
stärken.

Zusagen in der Energiepolitik - und offene Fragen

Eine der am häufigsten von der Wirtschaft genannten Nachteile im
internationalen Vergleich sind hohe Energiepreise. Scholz sagte mit Blick auf
den klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft, ihm sei bewusst, dass die
Transformation wegen eines unterschiedlichen Niveaus der Energiepreise weltweit
eine Herausforderung für den Standort Deutschland darstelle.

Er verwies auf Entlastungsmaßnahmen der Bundesregierung wie die Senkung der
Stromsteuer auf den europäischen Mindestsatz für produzierende Unternehmen. Die
Bundesregierung spreche derzeit intensiv darüber, wie Entlastungen verstetigt
werden könnten, machte der Kanzler deutlich. Unternehmen sollten Klarheit
bekommen.

Klarheit fordert die Industrie auch bei wichtigen Entscheidungen an anderer
Stelle. Dabei geht es zum Beispiel um die Kraftwerksstrategie der Regierung.
Zwar hatte sich die Regierung auf Eckpunkte geeinigt zur Förderung neuer
Gaskraftwerke, die später mit Wasserstoff betrieben werden sollen - und
"Backups" sein sollen für erneuerbare Energiequellen, wenn kein Wind weht und
keine Sonne scheint. Eine beihilferechtliche Genehmigung der EU-Kommission aber
steht noch aus
- und offen ist auch das künftige Design des Strommarktes. Solche
offene Fragen sieht Russwurm zum Beispiel auch beim Aufbau eines
Wasserstoff-Kernnetzes./hoe/DP/jha

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