05.07.2024 17:22:00 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Wahltriumph für Labour läutet neue Ära in Großbritannien ein

LONDON (dpa-AFX) - Jubel, Fähnchen und Freudentränen: In einem Triumphzug
zieht der neue britische Premierminister Keir Starmer in der Downing Street ein.
Für seine Labour-Partei ist es ein historischer Sieg nach 14 Jahren in der
Opposition.

Bei der vorigen Wahl noch von Boris Johnson vernichtend geschlagen, halten
die Sozialdemokraten jetzt eine überwältigende Mehrheit im Unterhaus in London.

Trotz des Wahlsiegs ist die erste Rede des neuen Regierungschefs alles
andere als triumphierend. Starmer weiß: Ihm stehen enorme Herausforderungen
bevor, und die Unterstützung der Bevölkerung ist nicht so breit, wie sie auf den
ersten Blick erscheint.

Wandel brauche Zeit, gesteht Starmer ein. "Aber wir können heute den Anfang
machen mit dem einfachen Bekenntnis, dass der Dienst an der Gemeinschaft ein
Privileg ist und unsere Regierung jeden einzelnen Menschen in diesem Land mit
Respekt behandeln sollte."

Das Wahlergebnis trügt

Labour kommt nach Auszählung fast aller Stimmen auf mindestens 412 von 650
Sitzen im Parlament. Die bisher regierenden Konservativen von Starmers Vorgänger
Rishi Sunak fahren mit voraussichtlich nur 121 Sitzen das schlechteste Ergebnis
ihrer Geschichte ein.

Doch die Sitzverteilung trügt: Zwar hält Labour zwei Drittel der Mandate,
aber kann nur gut ein Drittel (34 Prozent) der Wählerstimmen auf sich vereinen.

Starmer verspricht Rückkehr zu Stabilität und Wachstum

Nach Ansicht von Professor John Curtice von der Universität Strathclyde in
Glasgow haben die Briten die Konservativen nach 14 Jahren voller Chaos,
Skandalen und wirtschaftlicher Stagnation abgestraft. Nicht Labour wurde
gewählt, die Tories wurden abgewählt, urteilt er.

Wohl deshalb wendet sich Starmer direkt an die Menschen, die Labour nicht
gewählt haben: "Meine Regierung wird sich in Ihren Dienst stellen. Politik kann
eine Kraft des Guten sein - das werden wir beweisen", wirbt er. Gleichzeitig
kündigt er einen Neustart und eine Rückkehr zu Stabilität und Wachstum an.

Gesetzesvorhaben sollen rasch umgesetzt werden

Mit Spannung wird daher die politische Agenda der neuen Regierung erwartet.
In knapp zwei Wochen soll König Charles III., der Starmer eben noch im
Buckingham-Palast zum Premier ernannt hat, das Regierungsprogramm verlesen.

Erwartet wird, dass die neue Regierung versuchen wird, so schnell wie
möglich Gesetzesvorhaben umzusetzen. Berichten zufolge will Starmer rasch viele
neue Mitglieder ins Oberhaus bringen, um auch in der zweiten Kammer eine
Mehrheit für seine Pläne zu haben. Das Motto heißt Durchregieren.

Gelegenheit, sich auf dem internationalen Parkett zu beweisen, bekommt
Starmer bereits in der kommenden Woche beim Nato-Gipfel in Washington. Eine
Woche danach empfängt der Premier mehr als 40 Staats- und Regierungschefs zum
Gipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft.

Gewaltige Herausforderungen

Die Wählerbindung dürfte schwierig werden. Viele erwarten geradezu
Wunderdinge vom neuen Premier. Dabei steht das Land vor enormen
Herausforderungen. Der staatliche Gesundheitsdienst NHS liegt am Boden, es gibt
zu wenig Wohnraum, die maroden Gefängnisse sind überfüllt, es herrscht akuter
Fachkräftemangel, der Brexit ist noch immer nicht überwunden.

Nur gibt es eigentlich kein Geld, um Verbesserungen zu finanzieren und
notwendige Investitionen anzuschieben. Labour will Steuererleichterungen für
Privatschulen streichen, Steuerschlupflöcher für wohlhabende Ausländer schließen
sowie die Übergewinnabgabe für Energieunternehmen erhöhen. Für Privathaushalte,
die ohnehin unter der höchsten Steuerlast seit Jahrzehnten klagen, soll sich
aber nichts ändern.

Populisten lauern auf Misserfolge und Rückschläge

Die gewaltige Mehrheit ist ein komfortabler Puffer für Starmer. Doch die
Flitterwochen des ehemaligen Chefs der Anklagebehörde CPS mit der britischen
Bevölkerung könnten kurz sein. Sowohl von rechts als auch von links lauern
Populisten, die Misserfolge und Rückschläge politisch ausschlachten wollen.

Starmer muss zunächst einmal alle Strömungen innerhalb der Partei bei Laune
halten. Labour ist nicht einfach mit der deutschen Schwesterpartei SPD
gleichzusetzen. Das Spektrum würde in Deutschland
- wenn man einen Vergleich versucht - in etwa von der Linkspartei bis
zum eher konservativ orientierten Seeheimer Kreis in der SPD reichen. Bis vor
wenigen Jahren war Labour eine zutiefst gespaltene Partei.

Ex-Labour-Chef Corbyn zieht wieder ins Parlament ein

Der linke Flügel um Ex-Parteichef Jeremy Corbyn, der 2019 krachend gegen den damaligen konservativen Premier Johnson verlor und anschließend von Starmer aus
der Partei gedrängt wurde, könnte aufbegehren, wenn Labour zu sehr in die
politische Mitte rückt.

Corbyn zog trotz Parteiausschluss bei der Wahl als unabhängiger Kandidat
wieder ins Parlament ein. Mit Starmers Stellvertreterin Angela Rayner ist noch
immer eine populäre Vertreterin des einstigen Corbyn-Lagers im Zentrum der
Parteiführung.

Gaza-Konflikt kostet Labour Wählerstimmen

Hinzu kommt die heikle Frage um die Positionierung Großbritanniens im
Gaza-Konflikt. Gerade in dieser Frage muss Labour auch einige Dämpfer hinnehmen.

Spitzenpolitiker Jonathan Ashworth verliert seinen Wahlkreis überraschend an einen unabhängigen, propalästinensischen Kandidaten. Selbst Parteichef Starmer
erhält deutlich weniger Stimmen als beim vorigen Mal. Auch ihm setzte ein
Bewerber zu, der das israelische Vorgehen im Gazastreifen kritisiert.

Mit dem Wahlsieg habe Labour zwar einen Gipfel bezwungen, kommentiert
Sky-News-Reporterin Beth Rigby das Wahlergebnis. Doch das sei nur der Anfang.
Auf Starmer und Labour warten noch viele weitere Berge./bvi/DP/jha

--- Von Benedikt von Imhoff und Christoph Meyer, dpa ---

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