11.07.2024 16:34:32 - dpa-AFX: POLITIK/ROUNDUP: Kann das klappen? Habecks Kurs aufs Kanzleramt

BERLIN (dpa-AFX) - Nach monatelangen Debatten kam die De-facto-Entscheidung
im Ausschlussverfahren: Wirtschaftsminister Robert Habeck wird Kanzlerkandidat
der Grünen. Konkurrentin Annalena Baerbock hat ihren Verzicht erklärt. Die
Grünen werden einen Kanzlerkandidaten für die nächste Bundestagswahl aufstellen
und damit auch Anspruch auf den Spitzenjob der Regierung erheben, wie die
Deutsche Presse-Agentur aus Grünen-Führungskreisen erfuhr. Doch warum sollte das
einen überhaupt interessieren bei einer Partei, die im Umfragen bei 11 bis 13
Prozent liegt?

Kommunikationsberater: Rennen ist offener als es aussieht

Der Grünen-Abgeordnete Sven-Christian Kindler hält stramme 25 Prozent für
möglich bei der Bundestagswahl, die regulär im Herbst 2025 stattfindet. Die SPD
habe vor der Wahl 2021 doch ähnliche Umfragewerte gehabt, sagte er im
Deutschlandfunk. Als die SPD-Parteichefs Olaf Scholz im August 2020 kürten, lag
ihre Partei im Umfragen allerdings bei 14 bis 15 Prozent. Derzeit liegt die
Partei zwischen 14 und 16 Prozent, die CDU/CSU bei rund 30 Prozent.

Doch auch Johannes Hillje sagt, das Rennen sei offener, als es derzeit
aussehe. "Dass die Grünen das Kanzleramt holen, ist aktuell unwahrscheinlich,
aber nicht ausgeschlossen." 2014 war er Wahlkampfmanager der europäischen Grünen
im Europawahlkampf. Inzwischen ist Hillje Politik- und Kommunikationsberater und
hat nach eigenen Angaben schon für alle drei Ampel-Parteien gearbeitet, für
Unternehmen, Bundesministerien und Verbände.

Nicht nur Habeck hat Altlasten

Es sehe nach einer Auseinandersetzung zwischen Friedrich Merz (CDU), Olaf
Scholz (SPD) und Habeck aus. Altlasten sieht Hillje bei allen dreien: "Merz hat
die Rhetorik der AfD kopiert, Scholz bleibt blass, Habeck hängen das
Heizungsgesetz und die AKW-Entscheidung nach."

Zur Aufstellung eines Kanzlerkandidaten würde er den Grünen so oder so
raten. Die Umfragen seien volatil, Verbesserung möglich. "Und es wäre unklug,
auf die zusätzliche Aufmerksamkeit der Medien zu verzichten, die eine
Kanzlerkandidatur bringt, bis hin zur Teilnahme an TV-Debatten."

Regierungspartei statt Underdog

Anders als noch im letzten Wahlkampf 2021 treten die Grünen diesmal
allerdings nicht mit einer gesellschaftlichen Stimmung für mehr Klimaschutz im
Rücken an. Damals kamen sie aus der Opposition, kokettierten mit der Rolle als
Underdog und Hoffnungsträger. Heute wissen Wählerinnen und Wähler, was grüne
Politik heißt - und viele lehnen sie massiv ab. Das Europawahlergebnis von
weniger als 12 Prozent war verheerend. Die Grünen wollen zugleich Stammwähler
nicht verprellen, müssen aber deutlich an Zuspruch gewinnen. Wie, ist unklar.

"Habeck muss sich offen zeigen für den Dialog mit Wählergruppen, die die
Grünen in den letzten Jahren verloren haben", glaubt Hillje. "Damit das klappt,
muss er noch mehr auch in schmerzhafte Diskussionen gehen, etwa mit Leuten,
denen Nachhaltigkeit wichtig ist, aber die Rezepte der Grünen nicht überzeugen."

Schwieriges Thema Migration

Das gesellschaftliche Top-Thema Migration fassen manche Grüne nur mit
spitzen Fingern an. Der Wunsch gerade linker Grüner nach mehr Offenheit
entspricht nicht dem Mainstream, das ist der Partei klar. "Wir können bei dem
Thema nicht gewinnen", heißt es dann. Aus Sicht Hilljes ein Fehler. "Die
Menschen erwarten, dass Migration nach Spielregeln funktioniert, haben aber
aktuell nur den Eindruck, dass da zu viel Chaos herrscht in Deutschland und
Europa." Und: "Die These, dass Problembenennung der AfD in die Karten spielt,
ist falsch - Problemignoranz tut das. Wenn man hier glaubhaft auftritt, ist es
auch möglich, sich für Fachkräfteeinwanderung und humane Flüchtlingspolitik
einzusetzen."

Die Inbrunst, mit der Grüne auf Problemen herumkauen und Kompromisse
kritisieren, ist ein Problem für die Partei. Realos beschreiben das so: Bis es
ein Ergebnis zu schwierigen Themen wie der Bezahlkarte für Flüchtlinge gibt, hat
die Partei Zuspruch auf allen Seiten verloren. Linken Wählern ist der Kompromiss
zu hart, konservative Sympathisanten schütteln den Kopf über die Bedenkenträger.
Die Disziplin habe schon zugenommen, meint indes ein Beobachter. Indizien dafür
gibt es: Als Habeck, der hier wenig Scheu hat vor klaren Worten, jüngst die
Abschiebung von schweren Straftätern und Gefährdern auch nach Syrien und
Afghanistan befürwortete, blieb ein Aufschrei aus.

Mit Habeck wird es spannend

Man muss Habeck nicht mögen, ein Langweiler ist er nicht. "Er stillt den
Durst der Gesellschaft nach Orientierung, rhetorisch und intellektuell", sagt
ein Grüner über ihn. Kleinmut, Stillstand, Übervorsicht sind dem
Instinkt-Politiker Habeck zuwider, er empfindet sie als Hemmnisse für
erfolgreiche Politik. Bei öffentlichen Auftritten spricht er anders als Baerbock
stets frei, der Verzicht aufs Manuskript scheint ihm eine Frage der Ehre,
vielleicht auch der Eitelkeit. Oft geht es gut, auch lange Reden sind häufig gut
strukturiert und unterhaltsam.

Wenn es aber schief geht, verheddert sich Habeck in seltsamen Sprachbildern
und schrägen Vergleichen oder vergreift sich im Ton. Einen Ort der Begegnung
zwischen Süd- und Nordkoreanern verglich er bei einem Besuch an der schwer
militärisch gesicherten Grenze jüngst mit der "Mixed Zone" im Fußball. Und die
USA forderte er bei einer Rede vor amerikanischen Studenten jüngst auf, doch
bitte ihre "Scheiß Probleme zu lösen". Im O-Ton: "Solve the fucking problems."

Wie es weitergeht

Eine offizielle Bewerbung Habecks für die grüne Pole Position im nächsten
Bundestagswahlkampf steht noch aus. "Alle weiteren Fragen für Wahlkämpfe werden
wir dann organisieren über die Gremien und dann uns rechtzeitig melden",
beschied er Journalisten auf seiner Sommertour in Paderborn. Wer ihm zuschaut,
kann allerdings nicht den leisesten Zweifel hegen, dass Habeck will - die Frage
ist allein, wann er das offiziell sagt und die Partei ihn kürt. Am
wahrscheinlichsten ist, dass dies erst nach den Landtagswahlen im Osten im
September passiert. Damit wären die erwartbar desaströsen Grünen-Ergebnisse dort
etwas weniger mit seiner Person verbunden.

Einen lähmenden Machtkampf immerhin hat Baerbock ihrer Partei mit dem im
US-Sender CNN erklärten Kandidatur-Verzicht erspart. Sie selbst begründete den
Schritt mit den Krisen der Welt, die sie als Außenministerin forderten. Das ist
nicht unplausibel, andererseits: Was hätte sie sonst sagen sollen? Dass "der
Robert" ein besserer Kandidat sei? Wohl kaum. Hillje hält den Schritt für klug.
"Sie hat den selbstbestimmten Rückzug einem riskanten Machtkampf
vorgezogen."/hrz/DP/men

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