19.05.2024 19:06:58 - dpa-AFX: POLITIK/ROUNDUP 4/Helikopterunfall: Rettungsteams suchen nach Irans Präsidenten

(mit neuen Informationen und Hintergrund)

TEHERAN (dpa-AFX) - Nach einem Unfall eines Helikopters mit dem iranischen
Präsidenten Ebrahim Raisi und Außenminister Hussein Amirabdollahian an Bord
suchen 40 Rettungsteams im Nordwesten des Landes nach dem Unglücksort. Wie
iranische Staatsmedien am Sonntagabend (Ortszeit) berichteten, war das Schicksal
der neunköpfigen Besatzung zunächst völlig unklar. Berichten iranischer Medien
zufolge bestand kein Kontakt zum Team um den Präsidenten, was unter
Regierungsanhängern große Sorgen schürte. Die Retter suchten demnach in Irans
Provinz Ost-Aserbaidschan auch nach Einbruch der Dunkelheit zu Fuß weiter - bei
Regen in einer bergigen Region.

Der 63-jährige Raisi war zusammen mit Außenminister Amirabdollahian auf der
Rückreise von einem Treffen mit dem Präsidenten des Nachbarlandes Aserbaidschan,
Ilham Aliyev. Gemeinsam hatten sie einen Staudamm eingeweiht. Es sollte ein
Zeichen der Kooperation sein, nachdem die Beziehung der Nachbarländer zuletzt
angespannt war. Der Helikopter verunglückte dann in der Provinz
Ost-Aserbaidschan. An Bord waren neun Menschen, darunter auch der Gouverneur
sowie der Freitagsprediger aus der Provinzhauptstadt Tabris.

Innenminister Ahmad Wahidi zufolge hatten die Rettungskräfte wegen des
Wetters und der Beschaffenheit des Geländes keinen einfachen Zugang zum
Unglücksort. Daher gebe es keine genauen Informationen über die Lage vor Ort.
Ein Reporter im Staatsfernsehen stand während einer Live-Schalte aus der Provinz
im dichten Nebel. Mit Anbruch der Dunkelheit fürchteten die Retter vor Ort, dass
die Suche erschwert werde. Bei der Suche wurden auch Spürhunde und Drohnen
eingesetzt. Wie iranische Medien berichteten, liegt der Unglücksort in der Nähe
von Dscholfa - mehr als 600 Kilometer von der Hauptstadt Teheran entfernt, nahe
der Grenze zu Aserbaidschan.

Große Sorgen bei Raisis Anhängern

In Raisis Heimatstadt Maschhad im Nordosten des Landes versammelten sich
Dutzende Gläubige in dem zentralen Pilgerschrein, wie der staatliche Rundfunk
berichtete. Auch in anderen Landesteilen, wie der religiösen Hochburg Ghom,
strömten Anhänger in die Moscheen. Die Sorge war groß, dass Raisi und auch
Außenminister Hussein Amirabdollahian etwas zugestoßen sein könnte. In den
sozialen Medien hingegen gab es auch viele Iranerinnen und Iraner, die sich über
das Unglück freuten. Irans Regierung warnte vor unbestätigten Informationen.

Irans Luftwaffe gilt als stark veraltet, ihre Modernisierung kommt
angesichts scharfer internationaler Sanktionen kaum voran. Viele Flugzeuge und
Helikopter stammen noch aus der Zeit vor der Islamischen Revolution von 1979,
als das Land enge Beziehungen zu den USA unterhielt. Immer wieder kommt es zu
folgenschweren Unfällen und Abstürzen.

Die Europäische Union beobachte die Situation, schrieb Ratspräsident Charles Michel auf der Plattform X. "Wir verfolgen aufmerksam die Berichte, dass der
Hubschrauber mit dem iranischen Präsidenten und dem Außenminister an Bord
unerwartet landen musste."

Regierung steht wegen repressiver Politik in der Kritik

Raisi war im August 2021 als neuer Präsident des Irans vereidigt worden. Der erzkonservative Kleriker wurde damit offiziell der Nachfolger von Hassan Ruhani,
der nach zwei Amtsperioden nicht mehr antreten durfte. Als Spitzenkandidat der
politischen Hardliner sowie Wunschkandidat und Protegé des Religionsführers
Ajatollah Ali Chamenei hatte Raisi die Präsidentenwahl im Juni mit knapp 62
Prozent der Stimmen gewonnen. Seine Regierung steht seit Jahren wegen der
repressiven Politik und der Wirtschaftskrise in der Kritik.

Der Iran stand zuletzt immer wieder in den Schlagzeilen, jüngst drohte gar
ein regionaler Krieg mit dem Erzfeind Israel. Während Raisis Amtszeit vertiefte
die Islamische Republik ihre wirtschaftliche und militärische Kooperation mit
China und Russland, die Beziehung zum Westen kühlte unter anderem wegen des
Streits über das heimische Atomprogramm ab. Außerdem warf der Westen dem Iran
massive Menschenrechtsverletzungen vor. Trotzdem gab es erst vor wenigen Tagen
wieder Berichte über neue, indirekte Gespräche im Golfstaat Oman mit den USA.

Raisi gilt als sehr einflussreich

Der 1960 in Maschhad geborene Raisi gilt innerhalb des islamischen Systems
als sehr einflussreich. Er pflegt ein enges Verhältnis zu Chamenei. Raisi war
über drei Jahrzehnte in der Justizbehörde tätig, 2019 wurde er zum Justizchef
ernannt. In seiner früheren Funktion als Staatsanwalt soll er im Jahr 1988 für
zahlreiche Verhaftungen und Hinrichtungen politischer Dissidenten verantwortlich
gewesen sein, die ihm von Gegnern auch den Titel "Schlächter von Teheran"
einbrachte. Laut Verfassung ist Raisi Regierungschef, Chamenei ist als
Staatsoberhaupt mächtiger und hat in allen strategischen Belangen das letzte
Wort.

Experten hatten Raisi zwischenzeitlich auch als möglichen Nachfolger für
Chamenei gehandelt, der im April 85 Jahre alt wurde. Innenpolitisch - auch wenn
sich die Kritik der jungen Generation inzwischen immer mehr gegen das gesamte
System der Islamischen Republik richtet - stand Raisi immer wieder unter Druck.
Zuletzt hatte die Regierung ihren umstrittenen Kurs bei der Verfolgung des
Kopftuchzwangs vorangetrieben.

Sollten Raisi und Amirabdollahian bei dem Unglück ums Leben gekommen sein,
dürfte die Islamische Republik in eine innen- und außenpolitische Krise stürzen.
Insbesondere Irans Außenminister war seit Beginn des Gaza-Kriegs mehr in die
Öffentlichkeit gerückt und bei zahlreichen Reisen zu Gast bei Verbündeten. Auch
dürfte es der Staatsführung schwerfallen, den Regierungschef mangels
Alternativen schnell zu ersetzen.

Die Berichte über das Unglück rufen Erinnerungen an den 10. April 2010 wach: Damals stürzte die polnische Präsidentenmaschine im dichten Nebel beim
Landeanflug auf die westrussische Stadt Smolensk ab. Alle 96 Menschen an Bord
kamen ums Leben, darunter der polnische Präsident Lech Kaczynski, seine Ehefrau,
Politiker, Abgeordnete und andere hochrangige Repräsentanten des Landes. Bis
heute ranken sich Verschwörungstheorien um das Unglück, das in Polen als
nationales Trauma gilt./str/pey/arb/DP/he

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