28.06.2024 11:33:42 - dpa-AFX: ROUNDUP 2/Nach Tod von Raisi: Iran wählt neuen Präsidenten

(aktualisiert)

TEHERAN (dpa-AFX) - Im Iran hat die Abstimmung zur Präsidentenwahl begonnen. Irans Religionsführer Ajatollah Ali Chamenei gab am Freitag traditionell seine
Stimme im Zentrum der Hauptstadt Teheran ab. Die Wahl steht im Zeichen einer
schweren Wirtschaftskrise, Spannungen mit dem Westen und Frust über die
Staatsmacht und Regierung, vor allem in der jüngeren Bevölkerung.

Rund 61 Millionen Wählerinnen und Wähler sind in der Islamischen Republik
dazu aufgerufen, einen neuen Regierungschef zu wählen. Die Wahllokale sind von
8.00 bis 18.00 Uhr Ortszeit (6.30 bis 16.30 Uhr MESZ) mit der Möglichkeit zu
einer Verlängerung geöffnet. Mit ersten Ergebnissen wird am Samstag gerechnet.
Die Wahl folgt auf den Tod von Amtsinhaber Ebrahim Raisi, der am 19. Mai bei
einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen war.

Der sogenannte Wächterrat, ein mächtiges islamisches Kontrollgremium, hatte
nur sechs Kandidaten für die Wahl zugelassen. Zwei Bewerber zogen sich jedoch
zurück. Die sogenannten Fundamentalisten - loyale und erzkonservative Anhänger
des Systems - sind am stärksten vertreten. Unter ihnen brennt ein Machtkampf
zwischen dem amtierenden Parlamentspräsidenten Mohammed Bagher Ghalibaf und dem
Hardliner Said Dschalili. Als wichtigster Herausforderer gilt der moderate
Politiker Massud Peseschkian.

Konservatives Lager gespalten - Hoffnung bei Reformpolitikern

Ghalibaf, früherer General der mächtigen Revolutionsgarden, gilt als
konservativer Machtpolitiker. Dschalili vertritt radikalere Positionen. Er
gehörte früh zum engsten Machtzirkel und arbeitete im Büro des Religionsführers
Ajatollah Ali Chamenei. Unter dem umstrittenen früheren Präsidenten Mahmud
Ahmadinedschad war Dschalili Chefunterhändler bei den Atomverhandlungen. Bis
zuletzt hatten Regierungsanhänger und Fundamentalisten gehofft, sich auf einen
Spitzenkandidaten einigen zu können.

Als gefährlichster Herausforderer gilt der moderate Politiker und frühere
Gesundheitsminister Massud Peseschkian. Im Wahlkampf kritisierte der Politiker
die Kopftuchpolitik und warb mit bürgerlichen Positionen für Stimmen.
Gleichzeitig bekundete Peseschkian seine Loyalität für Chamenei, die mächtigen
Revolutionsgarden und lobte den Angriff mit Drohnen und Raketen auf Israel als
Stolz der iranischen Nation. Führende Stimmen aus dem Reformlager haben ihm die
Unterstützung zugesagt.

Bei einer hohen Wahlbeteiligung dürften Peseschkians Chancen gar nicht
schlecht sein. Insbesondere, wenn es in die Stichwahl geht und sich das
iranische Volk zwischen einem Konservativen und Reformer entscheiden müsste. Der
Präsident hat im Iran als Regierungsoberhaupt nur eingeschränkte Macht.
Staatsoberhaupt ist der 85-jährige Religionsführer Ajatollah Ali Chamenei, der
in allen strategischen Belangen das letzte Wort hat.

Wenig Hoffnung auf große innenpolitische Änderungen

Den Glauben an große innenpolitische Veränderungen haben die meisten
Landesbewohner, vor allem die jungen Menschen, verloren. Der Tod der jungen
Kurdin Jina Masa Amini im Herbst 2022 entfachte landesweite Proteste gegen das
islamische Herrschaftssystem. Die Wahlbeteiligung bei der diesjährigen
Parlamentswahl erreichte ein Rekordtief von rund 40 Prozent. Bei
Präsidentschaftswahlen im Iran gehen traditionell jedoch mehr Menschen wählen.

Im Wahlkampf debattierten die Kandidaten vor allem über Wege, die enorme
Wirtschaftskrise im Land zu bewältigen. Der Iran ist wegen seines umstrittenen
Atomprogramms mit internationalen Sanktionen belegt und vom weltweiten
Finanzsystem weitgehend abgeschnitten. Das Land benötigt Investitionen in
Milliardenhöhe. Daneben diskutierten die Bewerber über innenpolitische Themen,
Kulturpolitik und den Umgang mit dem Westen.

Irans politisches System vereint seit der Revolution von 1979
republikanische und auch theokratische Züge. Freie Wahlen gibt es jedoch nicht:
Das Kontrollgremium des Wächterrats prüft Kandidaten stets auf ihre Eignung.
Eine grundsätzliche Kritik am System wird nicht geduldet, wie die
Niederschlagung von Protesten in den vergangenen Jahren zeigte./apo/DP/mis

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