12.07.2024 10:24:43 - dpa-AFX: POLITIK: Gegen den Krieg im Kopf - Traumatisierte Soldaten striegeln Pferde

AICHHALDEN (dpa-AFX) - Irgendwo im Nirgendwo im Schwarzwald tobt in den
Köpfen von Bundeswehrsoldaten immer noch der Krieg. Auch Jahre nach dem Rückzug
der Truppe aus Afghanistan wirkt das Erlebte nach - als Trauma. So bei Mike, 49
Jahre, Hauptmann. Als Spezialist für abbildende Aufklärung gibt der zweifache
Familienvater Mitte Juli 2013 entscheidende Koordinaten durch, ein B-1-Bomber
der US-Airforce wirft daraufhin eine Bombe auf eine Stellung der islamistischen
Taliban ab. Zwölf Menschen sterben. Für Mike ein Schock.

Wegen seiner diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ist der Offizier zurzeit mit zwei weiteren traumatisierten Soldaten sechs Wochen
lang zweimal die Woche auf der Silberburg-Ranch westlich von Rottweil. Dort
striegelt Mike mit Hingabe Wallach Kurt - und hofft, dass die Pferdetherapie ihm
beim Verarbeiten seines Alptraums hilft.

Auf dem Hof in Aichhalden läuft noch bis Ende 2025 eine Studie für das
Bundesverteidigungsministerium. Sie soll zeigen, ob der enge Kontakt zu Pferden
traumatisierten Bundeswehrsoldaten helfen kann.

Gewissensbisse und moralische Probleme

Mike hat starke Gewissensbisse. Er redet stockend. Immer wieder fährt er
sich mir den Händen übers Gesicht. "Wenn ich gewusst hätte, dass da so viele
Menschen sind, hätte ich die Koordinaten nicht durchgegeben. Ich habe ein
moralisches Problem", sagt er. Währenddessen sucht Therapiepferd Kurt beim
Striegeln die Nähe zu Mike. Immer wieder reibt das Tier seinen Kopf an Mikes
Brust. Mike lacht. "Ich erhoffe mir hier bei der Arbeit mit den Pferden, dass
ich gelassener und entspannter werden kann. Ich möchte das Erlebte begreifen,
damit umgehen und tatsächlich auch dann damit leben können." Kurt wiehert.

Mehrere Jahre lang nach der Bombardierung traut Mike sich nicht, zu
erzählen, was passiert ist im Einsatz. Auch nicht seiner Ehefrau. "Ich hatte
immer Angst, als Mörder abgestempelt zu werden, wenn ich darüber rede." Doch
Gereiztheit und Aggressionen nehmen zu. Noch hofft er zum damaligen Zeitpunkt,
dass ihm seine Lehrtätigkeit als Luftbildauswerter hilft, das Grauen in seinem
Kopf zu verarbeiten. Doch sein Zustand bessert sich nicht. "Der komplette Abzug
aus Afghanistan im August 2021 hat an meinen Moralvorstellungen gerüttelt.
"Wofür?", habe ich mich gefragt."

Wegen Depressionen krankgeschrieben

Wenige Monate später, im Dezember, wird Mike wegen Depressionen und Burnout
krankgeschrieben. Jetzt ist er in Fürstenfeldbruck stationiert, hat eine
sogenannte DPäk-Stelle. DPäk steht für dienstpostenähnliches Konstrukt. Seiner
Arbeit kann Mike aber nicht mehr nachgehen. Durch die Arbeit am Pferd, den
Gesprächen mit weiteren Betroffenen, die an der Therapie teilnehmen, kann Mike
wieder etwas freier atmen. "Beim Striegeln komme ich am besten runter und ich
spüre die Kraft des Tieres", sagt Mike.

Die PTZ-Studie der Bundeswehr zur Wirksamkeit pferdegestützter Therapien
läuft seit 2020 an zwei Standorten: im Zentrum für therapeutisches Reiten in
Berlin-Karlshorst und eben in Aichhalden. "Bis Ende 2025 sollen 100
Bundeswehrsoldaten die Therapie durchlaufen haben", sagt Oberfeldarzt Christian
Helms, der am Psychotraumazentrum der Bundeswehr in Berlin arbeitet.

Die Therapie spielt sich auf der zwei Hektar großen Ranch des
Truppenpsychologen im Kommando Sanitätseinsatzunterstützung in Weißenfels,
Alexander Varn, ab. Er war 2018 und 2019 im Rahmen eines wissenschaftlichen
Austausches 14 Monate an der Air Force Academy in Colorado Springs und lernte
dort das pferdetherapeutische Verfahren kennen. Das gibt er in Aichhalden
weiter.

Das Projekt sei kostengünstig in der Bundeswehr verankert, sagt Varn. Es
entstünden der Bundeswehr außer der Arbeitszeit des zweiköpfigen Betreuerteams
keine Kosten. Denn die fünf Therapie-Pferde und der Hof werden von Varn privat
gestellt. "Der Bedarf ist da", sagt Varn.

Gefallen im Gefecht

Der Truppenpsychologe wird von Jens Hölzle vom Jägerbataillon 292 der
Deutsch-Französischen Brigade (Donaueschingen) unterstützt. Hölzle selbst wurde
im Jahr 2009 im Einsatz in Afghanistan verwundet, als eine Patrouille in den
Hinterhalt geriet. Ein Geschosskopf, abgefeuert von den Taliban, durchdringt die
Panzerung des Fuchses, auf dem unter anderem Hölzle und Sergej Motz eingesetzt
sind. Motz überlebt den Angriff nicht. Der junge Hauptgefreite ist der erste
deutsche Soldat, der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einem Feuergefecht
fällt.

Laut Bundeswehr können seelisch belastende Erlebnisse wie menschliche
Grausamkeit oder sinnloses Leid eine PTBS auslösen. Die Symptome seien
Schreckhaftigkeit, Suchtprobleme, Schlafstörungen, Alpträume, Aggressivität
sowie Schuld- und Schamgefühl. Im vergangenen Jahr gab es laut Helms bei der
Bundeswehr 322 neu gemeldete Trauma-Folgeerkrankungen, 197 waren als PTBS
gemeldet. "Die Rückmeldung der Teilnehmenden an der Studie ist sehr, sehr
positiv", sagt Helms./tat/DP/jha

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