08.07.2024 08:30:03 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Aufregung um Arbeitszeit - Aufzeichnung oder Flexibilität?

ERFURT/BERLIN (dpa-AFX) - Nach Jahren mit wenig Arbeitszeiterfassung,
Kontrolle und Papierkram beim mobilem Arbeiten oder im Homeoffice kehrt eine Art
digitale Stechuhr zurück. Arbeitszeiterfassung ist für Deutschlands Unternehmen,
Büros und Verwaltungen Pflicht - diese Grundsatzentscheidung des
Bundesarbeitsgerichts gilt seit zwei Jahren. Doch eine Reaktion des Gesetzgebers
lässt bis heute auf sich warten. Stattdessen pocht die FDP auf ein Ende des
Acht-Stunden-Tags - mit dem Ziel: Wirtschaftswende.

Was die höchsten deutschen Arbeitsrichter entschieden

Es besteht in Deutschland eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung, heißt es in dem Beschluss des Bundesarbeitsgerichts von September 2022 (1ABR 22/21). Die
Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, Inken Gallner, begründete die Pflicht von
Arbeitgebern zur systematischen Erfassung der Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten
mit dem sogenannten Stechuhr-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) von
2019 und dem deutschen Arbeitsschutzgesetz.

Laut EuGH sind die EU-Länder zur Einführung einer objektiven, verlässlichen
und zugänglichen Arbeitszeiterfassung verpflichtet. Sie soll helfen, ausufernde
Arbeitszeiten einzudämmen und Ruhezeiten einzuhalten. Gewerkschafter
argumentieren, die Kehrseite von Vertrauensarbeit seien großteils unbezahlte
Überstunden. Gallner sagte in der Verhandlung: "Zeiterfassung ist auch Schutz
vor Fremdausbeutung und Selbstausbeutung."

Was im Arbeitsalltag gilt

Mit dem Beschluss zur Zeiterfassungspflicht sei das "Ob entschieden", betont die BAG-Präsidentin. Das "Wie" kann gesetzlich geklärt werden oder durch
Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, wie sie der Deutschen
Presse-Agentur in Erfurt sagt. "Wir haben herausgefunden, dass die Betriebsräte
dafür ein Initiativrecht haben."

Nach dem deutschen Arbeitszeitgesetz mussten vor der höchstrichterlichen
Entscheidung nur Überstunden und Sonntagsarbeit dokumentiert werden, nicht die
gesamte Arbeitszeit. Das Bundesarbeitsgericht zog für seinen Beschluss nicht das
Arbeitszeit-, sondern das Arbeitsschutzgesetz heran. Nach Paragraf 3 sind
Arbeitgeber danach bereits verpflichtet, "ein System einzuführen, mit dem die
von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann". Schnell wurde
über eine Änderung des Arbeitszeitgesetzes gestritten, das definieren soll, wie
die Arbeitszeiterfassung in der Praxis erfolgen soll.

Was Arbeitsminister Heil unternimmt

Auch die SPD im Bundestag machte sich für ein neues Gesetz stark - denn
Überstunden würden heute oft nicht erfasst und vergütet. Wirtschaftsverbände und
FDP sehen das "Stechuhr-Urteil" allerdings im Widerspruch zu einer modernen,
flexiblen Arbeitswelt.

Zuständig in der Bundesregierung ist Arbeitsminister Hubertus Heil. Der
SPD-Politiker hatte zwar eine zügige Lösung angekündigt - und legte vor gut
einem Jahr auch einen ersten Gesetzentwurf vor. Auf dem Arbeitgebertag im Herbst
beteuerte der Minister noch, er wolle nicht die Stechuhr wieder einführen.

Noch immer hat die Regierung das Thema nicht abgearbeitet. "Zur gesetzlichen Ausgestaltung der Aufzeichnungspflicht finden derzeit regierungsinterne
Gespräche statt", bekundet eine Sprecherin des Heil-Ministeriums. Auch aus
Ampel-Fraktionskreisen heißt es: "Da gibt es keinen neuen Stand." Verwiesen wird
im Arbeitsministerium auf das Bundesarbeitsgericht - denn: "Die Frage des "Ob"
einer Aufzeichnungspflicht ist damit geklärt", so auch die Heil-Sprecherin.

FDP: Acht-Stunden-Tag "altes Dogma"

Warum sich die Ampel schwertut mit Neuerungen in dem Bereich, zeigen auch
die Debatten nach dem jüngsten Wachstumspaket, das die Regierung mit dem
Haushalt 2025 festgezurrt hat. Die Partner sind bei dem Thema uneins wie in
vielen sozialen Fragen. Prompt nach der Rettung der Koalition per
Haushaltseinigung macht sich die FDP im Bundestag für ein Ende des
Acht-Stunden-Tags für Deutschlands Beschäftigte in heutiger Form stark.

Das Wachstumspaket sei "ein wichtiger erster Schritt in die richtige
Richtung, dem perspektivisch die vollständige Umstellung von der Tages- auf eine
Wochenhöchstarbeitszeit folgen sollte", sagt FDP-Fraktionsvize Lukas Köhler.
Heute darf die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
acht Stunden in der Regel nicht überschreiten - für Köhler ein "altes Dogma".

Die Koalitionsspitzen hatten sich in der Nacht zu Freitag auf Steuer- und
Beitragsfreiheit für Zuschläge für Überstunden geeinigt, die bei
Tarif-Beschäftigen eine Wochenarbeitszeit von 34 Stunden überschreiten, bei
anderen von 40 Stunden.

Bei acht von zehn wird Arbeitszeit erfasst

Nach Einschätzung von Gallner hat sich die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung
durchgesetzt. Betroffen sind die 35 Millionen sozialversicherungspflichtigen
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die es laut Statistischem Bundesamt in
Deutschland gibt. Gallner meint, es fehle zwar noch immer eine Anpassung des
Arbeitszeitgesetzes. "Aber in den Unternehmen haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer
oft maßgeschneiderte Lösungen gefunden, die Arbeitszeit und damit auch mögliche
Überstunden zu erfassen", so die BAG-Präsidentin.

80 Prozent der Beschäftigten sagten, dass ihre Arbeitszeit betrieblich
erfasst oder sie von ihnen selbst dokumentiert wird. Gallner verweist dabei auf
Angaben der Bundesanstalt für Arbeitsschutz. Zahlen von 2023 deuteten darauf
hin, "dass die Erfassung der Arbeitszeit etwas stärker verbreitet ist als noch
2021 und 2019", so die Bundesanstalt in einem Bericht.

Was aus Homeoffice und Vertrauensarbeitszeit wird

Flexible Modelle wie mobiles Arbeiten, Homeoffice oder Kernarbeitszeiten
seien durch die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts nicht eingeschränkt, so
Gallner. "Das geht doch alles. Vertrauensarbeitszeitmodelle sind nicht in
Gefahr, im Gegenteil." Auch dafür würden schließlich die gesetzlichen Regelungen
gelten wie eine elfstündige Ruhezeit pro Tag oder eine wöchentliche
Höchstarbeitszeit von 48 Stunden. Sie reagierte damit auf Befürchtungen einiger
Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände.

Wie Deutschland auf die "Sünderliste" der EU kam

Nach Angaben von Fachpolitikern und Arbeitsrechtlern stand Deutschland wegen der fehlenden Umsetzung der Zeiterfassungspflicht kurz vor einem
Vertragsverletzungsverfahren der EU - als einziger großer Mitgliedsstaat. Nach
ihrem Wissen stehe die Bundesrepublik inzwischen nicht mehr auf der
"Sünderliste", sagt Gallner./rot/DP/zb

--- Von Simone Rothe und Basil Wegner, dpa ---

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