01.07.2024 11:01:49 - dpa-AFX: EM 2024/Glück und Genie: England 'elendig schlecht' Richtung Berlin

GELSENKIRCHEN (dpa-AFX) - Noch verschwitzt und im Trikot knöpfte sich Jude
Bellingham die zahlreichen Kritiker in der Heimat vor. Englands EM-Retter sprach
nach seinem einem denkwürdigen Fußballabend in Gelsenkirchen ganz frei vom
"Müll", der insbesondere in diesen Tagen immer wieder über ihn, sein Team und
vor allem Trainer Gareth Southgate verbreitet werde.

Nach der sportlichen Botschaft in Form eines akrobatischen Fallrückziehers
in der fünften Minute der Nachspielzeit legte Bellingham verbal kräftig nach:
"Es wird viel geredet. Und ich glaube, man muss das ein bisschen persönlich
nehmen. Und in solchen Momenten ist es schön, es einigen Leuten heimzuzahlen."

"Eines der besten Tore in der Geschichte Englands"

Passend zu seinen Worten hatte er während des glücklichen 2:1 nach
Verlängerung gegen Außenseiter Slowakei einen Griff Richtung eigene Genitalien
angedeutet - ein Gruß an die Freunde, wie Bellingham am späten Sonntagabend über
die sozialen Netzwerke wissen ließ. Die ganz große Blamage und das Ende der
knapp acht Jahre langen Ära Southgate konnten Torschütze Harry Kane und Co. mit
ganz viel Glück und einem Geniestreich von Bellingham noch abwenden. Kane sprach
von "einem der besten Tore in der Geschichte Englands".

Doch während der Champions-League-Sieger von Real Madrid nach kurzer
Stippvisite vor der Weltpresse wieder verschwand, tobte in der Heimat schon die
nächste Runde der Dauerdebatte. Es ging dabei weniger um das anstehende
Viertelfinale am Samstag (18.00 Uhr) gegen die Schweiz oder die weiter greifbare
erste Titelchance nach 58 Jahren, sondern um Bellingham, Southgate - und vor
allem die Darbietungen im bisherigen Turnier.

Buchmacher sehen Three Lions vorne

"Wir waren elendig schlecht und zwar in allen vier Spielen", sagte
Ex-Nationalspieler Gary Neville bei ITV. Aller Schönrednerei von Southgate und
Co. zum Trotz würde kaum ein Zuschauer nach den Spielen gegen Serbien (1:0),
Dänemark (1:1), Slowenien (0:0) und nun die Slowakei widersprechen wollen.
England rumpelt Richtung Berlin, bis zum Finale am 14. Juli sind es tatsächlich
nur noch zwei Schritte. Bei den Buchmachern ist das Ensemble mit einem Marktwert
von über einer Milliarde Euro sogar weiter der Topfavorit.

Und der günstige Turnierbaum ohne einen der Topfavoriten in der eigenen
Hälfte könnte eine erneute Finalteilnahme begünstigen. Auch die in der Vorrunde
sieglosen Portugiesen bei der EM 2016 und die defensiv-vorsichtigen Franzosen
bei der WM 2018 sahen lange nicht aus wie ein zukünftiger Titelträger. "Es hört
sich komisch an, aber ich habe nie gefühlt, dass dieser Abend das Ende unseres
Turniers ist", sagte Southgate, der bei einer Niederlage wohl noch in der Arena
auf Schalke sein Ende als Chefcoach erklärt hätte.

TV-Experte Neville kann sich nicht vorstellen, dass die bisherigen
Leistungen für eine weitere Runde reichen. "Wir müssen jetzt dramatisch etwas
verändern. Ich habe mit Gareth Southgate gespielt und kenne ihn. Er ist ein
großartiger Kerl und verfügt über enorme Integrität. Aber er wird erkennen, dass
er verdammt nah am Abgrund war."

Und auch im Land des nächsten Gegners hält sich der Respekt in engen
Grenzen. Der Schweizer "Blick" nannte Southgate eine "ungeliebte Notlösung" und
sieht Englands Stern schon längst "im Sinken". So überzeugend wie das eigene 2:0
gegen Italien war das Weiterkommen der Engländer bei Weitem nicht.

Auf Ratlosigkeit folgt Rettung

Die Liste der Mängel bei den Three Lions ist sehr lang. Kane und Bellingham
wirken trotz ihrer jeweils zwei Turniertore überspielt und teilweise wie
Fremdkörper. Auch von Phil Foden und Bukayo Saka kommt viel zu wenig. Gegen die
Slowakei leistete sich erstmals auch die Defensive, in der gegen die Schweiz der
gesperrte Innenverteidiger Marc Guehi fehlen wird, grobe Fehler.

"Wir wollen besser sein, das will ich gar nicht wegdiskutieren. Aber der
Spirit und der Charakter waren da", sagte Southgate. Wie der 53-Jährige trotz
Rückstands nur zweimal in 90 Minuten wechselte und mit tief vergrabenen Händen
in den Hosentaschen an der Linie stand, wirkte wie ein Zeichen von großer
Ratlosigkeit. Doch nach der Rettung durch Bellingham schien wieder alles gut.
"Wir hatten heute diesen Zusammenhalt und wir würden alles tun, um diesen
Trainer zu schützen", sagte Mittelfeldspieler Declan Rice./pre/DP/mis

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