01.07.2024 16:53:23 - dpa-AFX: HINTERGRUND/Macrons Machtpoker scheitert: Es droht Chaos und Rechtsruck

PARIS (dpa-AFX) - Er wollte mit riskanten Parlamentswahlen hoch hinaus, doch
nun folgt für Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wohl der tiefe Fall. Nicht
nur dürfte sein Lager die relative Mehrheit in der Nationalversammlung verlieren
und nur noch drittstärkste Kraft sein. Auch könnte er, der um keinen Preis als
Wegbereiter der Rechtsnationalen in die Geschichte eingehen will, durch seinen
Poker nun tatsächlich die Schlüssel der Macht an die erste Rechtsaußenregierung
seit Jahrzehnten übergeben.

Ganz egal, wie genau die entscheidende Wahlrunde am nächsten Sonntag
ausgeht: Der Herrscher im Élyséepalast, der bislang lieber alle Zügel selber in
der Hand hielt, wird seine Macht teilen müssen. Ob mit Marine Le Pens
Rassemblement National (RN), das in der ersten Wahlrunde triumphierte, oder dem
zweitplatzierten neuen Linksbündnis Nouveau Front Populaire - das hängt von zwei
Faktoren ab, auf die Macron kaum Einfluss hat: die strategische Positionierung
der Parteien und das Wahlverhalten.

Brandmauer gegen rechts geplant

Nur 76 der 577 Sitze der Nationalversammlung wurden in der ersten Runde
vergeben. Der Rest folgt in den Stichwahlen. Mit dabei sind all diejenigen, für
die mindestens 12,5 Prozent der eingeschriebenen Wähler in ihrem Wahlkreis
gestimmt haben.

Die große Frage: Verständigen sich wirklich alle Parteien jenseits der
extremen Rechten in allen Wahlkreisen mit drei potenziellen Kandidaten für die
Stichwahl darauf, ihre drittplatzierten Bewerber zurückzuziehen und eine
Empfehlung für den zweitstärksten Herausforderer des RN-Kandidaten abzugeben? Am
Wahlabend kündigten das Linksbündnis und Macrons Mitte-Lager das Errichten einer
solchen Brandmauer gegen das Vorrücken der extremen Rechten an.

Das Verhalten der tief gespaltenen konservativen Républicains, die zwischen
einer Allianz mit Le Pen und klarer Kante gegen die Rechtsaußen schwanken,
bleibt abzuwarten. Die Praxis von Zweckbündnissen für den zweiten Wahlgang hat
in Frankreich mit seinem Mehrheitswahlrecht Tradition. In welchem Umfang sie
angesichts der hohen Zustimmungswerte für die Rechten diese nun ausbremsen kann,
muss sich zeigen.

Macrons Strategie ging nicht auf

Denn nichts deutet darauf hin, dass nach dem Rekordergebnis für das RN in
der ersten Wahlrunde nun die Zustimmung für die Rechtspopulisten bröckelt. Nach
einer Umfrage des Instituts Ipsos sind 74 Prozent der Wähler in Frankreich mit
Macron unzufrieden. Und seine Strategie, die Parteien links und rechts seines
Mitte-Lagers als unwählbare Extremisten oder deren Verbündete zu
disqualifizieren, ging erkennbar nicht auf.

Der Liberale Macron und sein laut Prognosen ab nächstem Sonntag deutlich
kleineres Lager im Parlament stehen auf jeden Fall vor einer enormen
Herausforderung. Denn selbst wenn es im Schulterschluss mit dem Linksbündnis
gelingen sollte, den Griff der Rechten nach der Macht zu stoppen, müssten die
beiden Lager mit bislang meist konträren Vorstellungen sich für ein
Regierungsprogramm zusammenraufen. Mit der Ablehnung der extremen Rechten als
wesentlichem gemeinsamen Nenner droht dies in politischem Chaos und Stillstand
zu enden.

EU mahnt Sparkurs statt zusätzlicher Milliardenausgaben an

Die hohe Verschuldung Frankreichs bietet nüchtern betrachtet ohnehin kaum
Spielraum für kostspielige neue Zukunftsvisionen. Vor zwei Wochen erst startete
die EU-Kommission auch gegen Frankreich ein Defizitverfahren wegen zu hoher
Neuverschuldung. Statt üppiger Zusatzausgaben im Umfang von Dutzenden Milliarden
Euro, mit denen das Linkslager um Stimmen warb, müsste Frankreich eigentlich
einen radikalen Sparkurs abstecken, zu dem selbst Macron bislang nicht bereit
war.

Dass der junge Premierminister Gabriel Attal, auf den Macron bei dessen
Ernennung Anfang des Jahres noch viel Hoffnung setzte, bei den potenziellen
künftigen Machtkonstellationen wohl nicht im Amt wird bleiben können, scheint
klar. Aber wen Macron zum Premier ernennen könnte, sollte der Coup einer Art
großen Koalition gegen rechts überraschend gelingen, ist offen. Das
Linksbündnis, zu dem Grüne, Kommunisten, Sozialisten und die Linkspartei
gehören, war selber nicht mit einem Spitzenkandidaten in die vorgezogene
Parlamentswahl gegangen - und es wird auch niemand als Favorit gehandelt. Sicher
ist aber, dass dem künftigen Premier angesichts veränderter Machtverhältnisse
mehr Einfluss zukommen wird. Macron hingegen wird an Macht verlieren.

Rechte Regierung Schreckgespenst für Berlin und Brüssel

Aus Sicht etlicher Linker, Franzosen mit Migrationsgeschichte und wohl auch
Berlin und Brüssel wäre aber viel mehr noch als ein blockiertes Frankreich eine
RN-Regierung das Schreckgespenst. Nicht nur haben die Rechtsnationalen für den
engen Partner Deutschland wenig übrig, auch wollen sie den Einfluss Brüssels
massiv eindämmen. Statt wie Macron zur Verteidigung der Ukraine gegen den
russischen Aggressor strategisch nicht zu viel ausschließen zu wollen, setzt die
Partei mit nachgesagter Russlandnähe klare Grenzen, etwa bei Waffenlieferungen.

Die Verantwortung für diese mitunter als düster wahrgenommenen Perspektiven, auf die Frankreich zusteuert, trägt am Ende Macron. Denn er war es, der die
Neuwahlen erst anzettelte, sei es aus Naivität oder Selbstüberschätzung. Sein
Taktieren um mehr Macht ist gescheitert. Ein Rechtsruck und eine
Machtverschiebung sind Frankreich gewiss. Egal, wie die Stichwahlen ausgehen,
fest steht: Dieses Mal hat der zur Impulsivität neigende Stratege Macron sich
verrannt./evs/DP/jha

--- Von Rachel Boßmeyer und Michael Evers, dpa ---

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