02.07.2024 11:30:04 - dpa-AFX: HINTERGRUND/Wahl in Großbritannien: Konservative vor Bedeutungslosigkeit

LONDON (dpa-AFX) - Die letzte Hoffnung bringt Rishi Sunak der Fußball. "It's
not over until it's over", postet der britische Premierminister bei X. Dazu: Ein
Bild, wie der 44-Jährige über den Ausgleich der englischen Nationalmannschaft in
letzter Minute im EM-Achtelfinale gegen die Slowakei jubelt. Es ist erst vorbei,
wenn es vorbei ist. Am Donnerstag wählt Großbritannien ein neues Parlament.
Sunaks Post soll zeigen: Bis die Wahllokale schließen, kann alles passieren.
Auch ein Sieg von Sunaks Konservativer Partei.

Aber der Premier steht mit seiner demonstrativen Zuversicht zunehmend
allein. Selbst Regierungsmitglieder glauben nicht mehr an einen Sieg, längst
geht es nur noch um Schadensbegrenzung. Zu deutlich liegt die Oppositionspartei
Labour in allen Umfragen in Führung. Beim nächsten englischen EM-Spiel am
Samstag wird Sunak ziemlich sicher nicht mehr im Amt sein. Die Frage ist
eigentlich nur noch: Wie katastrophal wird es? Den Tories droht der "wipeout",
der Sturz in die Bedeutungslosigkeit.

Rutschen die Konservativen unter 100 Sitze?

Fast täglich gibt es neue Schreckensnachrichten für die Partei, die als eine der erfolgreichsten politischen Kräfte der westlichen Welt gilt. Manche
Umfrageprojektionen sehen die Konservativen bei deutlich unter 100 Sitzen. 2019
hatten sie 365 der 650 Mandate abgeräumt. Als erster amtierender Premierminister
der Geschichte könnte Sunak in seinem Wahlkreis abgewählt werden.

Labour-Chef Keir Starmer ist für den erwarteten Erfolg nur in
eingeschränktem Maße verantwortlich, sind Experten der Ansicht. Viele Wähler
wissen wenig über den einstigen Chef der Anklagebehörde CPS oder über die Ziele
seiner Sozialdemokraten. Schuld sind vielmehr die Konservativen selbst. "Die
Tories haben das Recht verwirkt, zu regieren", urteilt die eher konservative
Zeitung "Sunday Times". Das Wirtschaftsblatt "Financial Times" kommentiert:
"Großbritannien braucht einen Neuanfang."

Der Politologe Tim Bale nennt die 14-jährige Regierungszeit der
Konservativen katastrophal. "Sie sind schon zu lange im Amt und können kaum oder
gar keine nennenswerten politischen Erfolge vorweisen", sagt Bale von der Queen
Mary University of London im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. "Der
Brexit hat nicht funktioniert. Die Einwanderungszahlen sind aus Sicht der
Brexit-Gegner zu hoch. Die Wirtschaft ist träge. Das staatliche Gesundheitswesen
NHS steckt in der Krise. Und sie haben eine Reihe hoffnungsloser Politiker
gewählt." Es sind vor allem das Chaos und die Skandale unter Sunaks Vorgängern
Boris Johnson und Liz Truss, die Wählerinnen und Wähler abgeschreckt haben.

Liberaldemokraten als stärkste Oppositionsfraktion?

Durchaus möglich, dass die Tories nicht einmal die stärkste
Oppositionsfraktion im Unterhaus stellen. Damit einher ginge vor allem ein
großer Verlust an Einfluss: Die offizielle Opposition unterhält ein
Schattenkabinett, darf Ausschüssen vorsitzen und bekommt deutlich mehr Redezeit
im Parlament als kleinere Parteien.

Diese Rolle könnte den Liberaldemokraten zufallen. Parteichef Ed Davey sorgt im Wahlkampf mit aufsehenerregenden Stunts wie Bungee-Jumping dafür, dass die
Partei im Gespräch bleibt. Vor allem in Südengland gelten die "Libdems" manchen
Konservativen als Alternative.

Für die Tories stellt sich bereits die Frage, wie es nach der erwarteten
Wahlpleite weitergeht. Eine wichtige Rolle spielt dabei, wer überhaupt im
Parlament übrig bleibt, wie Experte Bale betont. Mehreren Kabinettsmitgliedern
droht das Aus. Dazu gehört auch Penny Mordaunt - weltweit bekanntgeworden, als
sie bei der Krönung von König Charles ein Schwert trug -, die als Favoritin des
moderaten Parteiflügels gilt.

Außer ihr stehen Ex-Innenministerin Suella Braverman und
Wirtschaftsministerin Kemi Badenoch für die Sunak-Nachfolge bereit. Laut "Times"
wurden für beide bereits entsprechende Websites vorbereitet. Braverman und
Badenoch sind Vertreterinnen des rechtskonservativen Parteiflügels. Unter ihrer
Führung würden sich die Tories noch stärker zu einem Ersatz für eine
rechtspopulistische Partei entwickeln als bisher, sagt Bale.

"Mr. Brexit" als Problem für die Konservativen

Fraglich aber, ob die Tories sich damit in der Opposition behaupten können.
Denn dieser Platz ist eigentlich besetzt: mit Nigel Farage, der maßgeblich den
Brexit vorantrieb, und seiner Partei Reform UK. Mit Tiraden gegen Migranten und
Kritik an der Konservativen Partei hat Farage, bekannt für seine Nähe zu
US-Präsidentschaftsbewerber Donald Trump und seine Zurückhaltung gegenüber
Kremlchef Wladimir Putin, den Druck auf Sunak von rechts verschärft.

In Umfragen liegt Reform knapp hinter, mitunter sogar vor den Tories. Weil
in Großbritannien nur der Wahlkreissieger einen Sitz im Parlament erhält,
dürften die Rechtspopulisten zwar nur wenige Mandate einsammeln. Aber sie kosten
die Konservativen entscheidende Stimmen. "Farage ist nicht der Hauptgrund, warum
die Tories geschlagen wirken", fasst es Bale zusammen. "Aber er hat die ohnehin
schon schlechte Lage für sie noch schlimmer gemacht."/bvi/DP/zb

--- Von Benedikt von Imhoff, dpa ---

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