15.05.2024 15:59:15 - dpa-AFX: POLITIK/ROUNDUP/Neukaledonien: Tote bei Unruhen in französischem Überseegebiet

NOUMÉA (dpa-AFX) - Seit Tagen sorgen gewalttätige Unruhen im französischen
Überseegebiet Neukaledonien für große Beunruhigung in Paris. Am Mittwoch rief
Frankreich den Ausnahmezustand aus. Präsident Emmanuel Macron habe ein
entsprechendes Dekret auf den Weg gebracht, teilte der Élysée-Palast am Mittwoch
nach einer Krisensitzung in Paris mit. Der Ausnahmezustand erleichtert es,
Ausgangssperren und Demonstrationsverbote zu erlassen und kann Polizei und
Justiz erweiterte Befugnisse geben.

Macron habe sich betroffen gezeigt über den Tod von drei Menschen sowie die
sehr schweren Verletzungen, die ein Polizist erlitten habe, teilte der
Élysée-Palast mit. Die Gewalttaten seien nicht tolerierbar und der Staat werde
unerbittlich durchgreifen, um die Ordnung wieder herzustellen. "Wir werden die
öffentliche Ordnung so schnell wie möglich wieder herstellen", sagte
Premierminister Gabriel Attal im Parlament.

"Es ist ein Wunder, dass es letzte Nacht nicht noch mehr Opfer gab",
zitierten örtliche Medien den Hochkommissar des Archipels, Louis Le Franc.
Dieser warnte zugleich vor einem möglichen Bürgerkrieg in der Inselgruppe im
Südpazifik.

Eines der Opfer sei durch eine Kugel getötet worden. Diese stamme aber nicht aus der Waffe eines Polizisten, betonte Frankreichs Innenminister Gérald
Darmanin. Er sprach von Angriffen auf Sicherheitskräfte mit Äxten und scharfer
Munition. Mehrere hundert Menschen wurden den Angaben zufolge verletzt. "Gewalt
in einer Demokratie darf es nicht geben. Es muss absolute Ruhe einkehren",
mahnte der Minister. Hochkommissar Le Franc sagte, wenn dieser Aufruf nicht
befolgt werde, dann sehe er "dunkle Stunden auf Neukaledonien zukommen". Er
werde notfalls das Militär zu Hilfe rufen.

Tropenparadies in Flammen

Die Bilder, die derzeit um die Welt gehen, wollen so gar nicht zu einem
Südseeparadies passen. Seit Montag werden immer wieder Gebäude und Autos in
Brand gesetzt. Über der Hauptstadt Nouméa liegt Medienberichten zufolge
beißender Qualm in der Luft. Es kommt zu Plünderungen und Zusammenstößen mit der
Polizei, Barrikaden werden errichtet und Ausgangssperren verhängt - die aber von
vielen Demonstranten nicht beachtet werden. Vor Geschäften bilden sich bereits
lange Schlangen, weil viele Angst vor Versorgungsengpässen haben. Zahlreiche
Tankstellen sind schon geschlossen.

Worum geht es? Die Separatisten sind wütend über eine geplante
Verfassungsreform der Regierung in Paris, die Tausenden französisch-stämmigen
Wählerinnen und Wählern, die seit über zehn Jahren ununterbrochen in
Neukaledonien gelebt haben, das Wahlrecht einräumen würde. Sie würden somit mehr
politischen Einfluss bekommen
- speziell bei wichtigen Provinzwahlen. Bisher waren die Stimmen
aller Einwohner, die nicht schon vor 1998 in Neukaledonien lebten,
"eingefroren".

Nach dem Senat hatte in der Nacht zum Mittwoch auch die Nationalversammlung
in Paris den umstrittenen Text angenommen. Jetzt muss noch der Congrès du
Parlement zustimmen, der für besondere Anlässe im Schloss Versailles einberufen
wird. Ein Datum für das Votum steht aber noch nicht fest.

Flughafen und öffentliche Einrichtungen geschlossen

Die Ausgangssperre, die seit Montag in dem Inselstaat gilt, wurde bis
Donnerstagmorgen verlängert. Der Hauptflughafen La Tontouta, Schulen und
öffentliche Einrichtungen bleiben bis auf Weiteres geschlossen. Einige Politiker
in Paris riefen bereits nach einem Einsatz des Militärs. Zwei neukaledonische
Parlamentarier bezeichneten die Situation als "dramatisch" und wandten sich
direkt an Macron: "Herr Präsident, es ist ein kritischer Moment, und nur Sie
können Neukaledonien retten." Viele Einwohner hätten bereits alles verloren, und
eine weitere Nacht voller Gefahren stehe bevor.

Neukaledonien liegt etwa 1500 Kilometer östlich von Australien und gehört
geografisch zu Melanesien. Die Hauptinsel Grande Terre ist die bei Weitem größte
Insel des Archipels. Von 1853 bis 1946 war "Nouvelle-Calédonie" französische
Kolonie. Für Paris ist das Territorium vor allem geopolitisch, militärisch und
wegen der dortigen Nickelvorkommen von Bedeutung.

Indigene Bevölkerung verlangt Unabhängigkeit

Im Rahmen der Dekolonialisierung wurde vereinbart, bis zu drei
Volksabstimmungen über die Unabhängigkeit abzuhalten, die 2018, 2020 und 2021
stattfanden. Eine Mehrheit der Bevölkerung sprach sich bei allen drei
Befragungen für einen Verbleib bei Frankreich aus. Die Unabhängigkeitsbewegung
boykottierte allerdings das letzte Votum und kündigte an, das Ergebnis nicht zu
akzeptieren. Vor allem die Bevölkerungsgruppe der Kanaken - Neukaledoniens
Ureinwohner, die ihr Land selbst "Kanaky" nennen - hofft schon lange auf einen
eigenen Staat.

Die Inselgruppe mit etwa 270 000 Einwohnern hatte bereits durch das Abkommen von Nouméa 1998 weitgehende Autonomie erlangt. Seit dem letzten Votum sind die
Fronten aber verhärtet. Macron hat nun alle politischen Vertreter zu einem
Treffen in Paris unter Führung von Premierminister Gabriel Attal eingeladen. Die
Gespräche sollen voraussichtlich Ende Mai stattfinden./cfn/DP/men

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