26.06.2024 14:01:40 - dpa-AFX: EM 2024/Nicht nur bunt und friedlich: EM auch Bühne für Extremisten

MÜNCHEN (dpa-AFX) - Deutschland feiert derzeit ein buntes Fußball-Fest.
Unter das Partyvolk mischen sich aber auch Leute, für die die
Europameisterschaft etwas anderes ist als ein integrativer und weltoffener
Fan-Sommer. Seit Turnierbeginn kam es immer wieder zu nationalistischen und
rechtsradikalen Vorkommnissen. Hass-Plakate auf den Stadionrängen,
Schmähgesänge, teils offener Rassismus, politisch motivierte
Auseinandersetzungen: Die EM 2024 ist auch ein Schaufenster für Extremisten.

"Eine Europameisterschaft ist nie nur ein sportliches Großevent, sondern
immer auch eine politische Bühne", sagt Robert Claus, ein Experte für Fankultur,
Hooligans und Extremismus im Fußball. "Und auf dieser Bühne wird verhandelt,
wofür Europa steht: Steht es für Zusammenhalt und Vielfalt? Oder steht es auch
für etwas anderes, für aggressive nationalistische Konkurrenzen."

Zwei Europas bei dieser EM

Die deutschen Organisatoren und die UEFA hätten die Euro 2024 gern als
Turnier des Friedens, als symbolisches Event, das die Menschen in Zeiten von
Kriegen in der Ukraine und in Gaza wieder näher zusammenbringt. Einen Monat lang
ein einträchtiges Europa, das war der Wunschtraum. Dieser ist aber zu schön, um
wahr zu sein, sagt Forscher Claus im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur:
"Es ist wichtig, diese Gleichzeitigkeit der Europas zu sehen: Es gibt einmal die
Fanmengen, die es bislang schaffen, ein friedliches Sportfest zu feiern. Es gibt
aber auch Teile der Fanszenen, die ihre aggressive Konkurrenz ausleben."

Einige Beispiele aus der EM-Gruppenphase:

* Im österreichischen Fanblock wird während der Partie gegen Polen ein
Banner mit der Aufschrift "Defend Europe" hochgehalten, einem Slogan der
rechtsextremen Identitären Bewegung. Diese spricht sich gegen multikulturelle
Gesellschaften aus und verbreitet rechtsextreme Verschwörungsmythen; in
Deutschland wird die Gruppe vom Verfassungsschutz beobachtet.

* Albanische und kroatische Fans grölen Medienberichten zufolge beim
Gruppenspiel in Hamburg gemeinsam: "Ubi Srbina!" ("Tötet Serben!"). Darüber
hinaus tauchen im Fanblock der Albaner Flaggen der UCK auf, jener
ultranationalistischen Miliz, die in den 90er Jahren gewaltsam für die
Unabhängigkeit des Kosovo kämpfte. Der paramilitärischen Gruppe werden
Kriegsverbrechen vorgeworfen.

* Serbische Anhänger wiederum bringen bei ihren drei Gruppenspielen Fahnen
in den Stadien an, auf denen die Umrisse des Kosovo zu sehen sind, eingefärbt in
den Farben des serbischen Wappens. Der Kosovo hatte sich 2008 von Serbien
unabhängig erklärt - Belgrad erkennt dies nicht an. Auch sollen Serben-Fans mit
Sprechchören ehemalige Generäle
- und Kriegsverbrecher - gefeiert haben.

* Unter türkischen Anhängern wird immer wieder der sogenannte Wolfsgruß
gezeigt, ein Handzeichen und Symbol der Grauen Wölfe. Das ist eine
rechtsextreme, antisemitische und rassistische Bewegung, der in Deutschland mehr
als 12 000 Anhänger zugerechnet werden.

* Im Dortmunder Stadion kommt es vor dem Match zwischen der Türkei und
Georgien zu Schlägereien zwischen gegnerischen Fans, Becher und andere
Gegenstände fliegen durch die Luft.

Für Experten sind solche Episoden keine Überraschung. Ein unpolitischer
Fußball ist grundsätzlich ein unrealistischer Wunsch mancher Funktionäre. "Wenn
sich georgische und türkische Fans prügeln, ist das hochgradig politisch
aufgeladen", sagt Claus.

Bei dieser Europameisterschaft kommen aber noch weitere Faktoren dazu, die
nationalistisches Auftreten von Fans begünstigen. Gleich vier Teams vom Balkan
(Slowenien, Kroatien, Serbien, Albanien) sind dabei, drei davon ehemalige
jugoslawische Teilrepubliken. "Fußball auf dem Balkan war immer schon und ist
noch heute ein Katalysator für Politik und nationalistische Gedanken", erklärt
Forscher Claus.

Rechtsruck in Europa zeigt sich auch bei EM

Das jüngste Erstarken rechter Parteien wirkt ebenfalls in die EM hinein. Der Publizist und Extremismus-Forscher Ruben Gerczikow sagte der ARD-"Sportschau",
es zeige sich "der Rechtsruck in Europa auch in den Stadien der
Europameisterschaft wie in einem Brennglas". Behörden, Verbände und Gesellschaft
beschäftigten sich zu wenig mit den Symbolen und Strukturen der Szene, monierte
Gerczikow. Das "Defend Europe"-Banner war in Berlin nur kurz zu sehen im
Fanblock - die serbischen Flaggen mit den Kosovo-Umrissen hingen etwa in München
dagegen das ganze Spiel über mitten auf den Rängen.

Die UEFA hat auf einige Episoden bereits reagiert, ging etwa gegen Serben,
Albaner und Kroaten vor und verhängte Geldstrafen. Albaniens Stürmer Mirlind
Daku wurde für zwei Spiele gesperrt, weil er "den Fußball in Verruf" gebracht
habe, als er mit einem Megafon vor der Fankurve nationalistische Gesänge
anstimmte.

Der kosovarische TV-Reporter Arlind Sadiku verlor seine Akkreditierung, weil er beim Match England gegen Serbien die umstrittene Doppeladler-Geste zeigte,
ein Zeichen der Heimatverbundenheit aller ethnischen Albaner. Der Journalist
sagte, dass er auf Anti-Kosovo-Gesänge der serbischen Fans reagiert habe.

Rekrutierung bei EM

Die Veranstalter hoffen nun, dass in der K.-o.-Phase ohne Teams wie
Kroatien, Serbien und Albanien derartige Vorfälle zurückgehen. Extremisten
sollen so keine derart große Bühne mehr erhalten. Denn eines unterstreicht
Fan-Experte Claus: "Der Fußball ist in Anbetracht der Menge an Fans - und vor
allem der Menge an jungen, gewaltaffinen Männern - hochgradig attraktiv zur
Rekrutierung für nationalistische Gruppen."/msw/DP/jha

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