28.06.2024 07:59:26 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Bidens Debatten-Desaster und die Panik der Partei

ATLANTA/WASHINGTON (dpa-AFX) - Joe Biden kämpft. Mit Wörtern, mit Zahlen,
mit seiner Stimme. Der US-Präsident steht neben Donald Trump auf der
Fernsehbühne in Atlanta, krächzend, versucht sich an einer Antwort zu Steuern,
Staatsschulden und der Wirtschaftslage. In einem Satz verwechselt er Billionäre
und Milliardäre, im nächsten Millionen und Milliarden. Zwischendurch zwinkert er
nervös. Dann beginnt er einen Satz, der einfach nicht enden will.

"Wir wären in der Lage, dafür zu sorgen, dass all die Dinge, die wir tun
müssen - Kinderbetreuung, Altenpflege, dafür sorgen, dass wir unser
Gesundheitssystem weiter stärken", sagt der 81-Jährige, "dafür sorgen, dass wir
in der Lage sind, jeder einzelnen Person...". Biden hat den Faden verloren. Er
schließt die Augen und setzt wieder an. "Anspruch haben auf... für das, was ich
mit dem..., dem Covid..." Wieder schließt er die Augen und räuspert sich.
"Entschuldigung, ähm." Der mächtigste Mann der Welt schaut nach unten auf sein
Stehpult. "Mit dem Umgang mit... allem, was wir zu tun haben..." Der Demokrat
blickt weiter auf das Pult hinab. Trump dreht sich zu ihm, mit fragendem Blick.

Die Pause, die selbst beim Zuschauen schmerzt, dauert an. Dann schaut Biden
auf, schiebt etwas Unverständliches zum Gesundheitssystem nach, bevor der
CNN-Moderator Jake Tapper ihn abwürgt und sagt: "Danke, Herr Präsident." Bidens
Redezeit ist abgelaufen

Fahrig, durcheinander, überfordert

Es ist nur einer von vielen Momenten im ersten TV-Duell der beiden
US-Präsidentschaftsbewerber in diesem Wahlkampf, in dem Biden fahrig daherkommt,
durcheinander, seiner Aufgabe bei der Debatte schlicht nicht gewachsen. Dass
neben ihm ein verurteilter Straftäter auf der Bühne steht, ein skandalumwobener
Politiker, der versucht hat, den Ausgang einer demokratischen Wahl zu sabotieren
und auch bei dieser Debatte schamlos Lügen verbreitet, gerät da in den
Hintergrund.

Biden gibt sich zwar angriffslustig, geht seinen Kontrahenten mehrfach
ungewöhnlich scharf an, verunglimpft ihn als "Verlierer", "Jammerlappen", einmal
sogar als jemanden mit der "Moral eines Straßenköters". Doch kraftvoll wirkt das
nicht. Mit heiserer und teilweise leiser Stimme quält er sich durch diverse
Antworten, die öfter mal unzusammenhängend sind. Zwischendurch gibt es dann
Momente, in denen er mit offenem Mund ins Leere blickt.

Die Reaktionen auf den Auftritt des demokratischen Spitzenmannes sind
verheerend, auch und gerade in der eigenen Partei. Bidens Alter und die Debatte
über seinen körperlichen und mentalen Zustand sind ohnehin sein größtes Problem
im Wahlkampf. Bei diesem ersten Aufeinandertreffen mit Trump seit vier Jahren
hätte er sich bewähren sollen, den Menschen im Land zeigen, dass er trotz seiner
81 Jahre bestens in der Lage ist, das Land zu führen und Trump zu schlagen. Doch
genau das gelingt nicht.

Blanke Panik in der Partei

Selbst Bidens Vize Kamala Harris räumt nach der Debatte vor laufender Kamera ein: "Das war ein holpriger Start, das ist für jeden offensichtlich." Doch der
Schluss sei stark gewesen. Letztere Einschätzung wiederum ist für viele
Zuschauer weniger offensichtlich. In einer ersten Schnell-Umfrage des Senders
CNN ist Trump der klare Gewinner, mit weitem Abstand. Selbst politische
Kommentatoren, die Biden üblicherweise gewogen sind, äußern sich entsetzt über
die Performance des Präsidenten, sprechen von einer Demütigung und einem
Wahlkampf-Desaster. "Es wird Diskussionen darüber geben, ob er weitermachen
wird", sagt etwa David Axelrod, Chefstratege von Bidens früherem Chef,
Ex-Präsident Barack Obama.

Und hinter vorgehaltener Hand sprechen Demokraten sofort nach der Debatte
tatsächlich über diese - eigentlich unvorstellbare - Frage: Ob ihr Frontmann
derart schwach ist, dass sie rund vier Monate vor dem Wahltag einen alternativen
Kandidaten finden müssen. "Es ist schwer zu argumentieren, dass Biden unser
Kandidat sein sollte", zitiert CNN einen nicht genannten Parteifunktionär.
Andere sprechen von blanker "Panik" in der Partei.

Ein Plan B der Demokraten?

Aber ginge es überhaupt, Biden noch aus dem Rennen zu nehmen? Theoretisch
ja. Ende August treffen sich die Demokraten zu einem Krönungsparteitag in
Chicago. Eigentlich um Biden offiziell als ihren Präsidentschaftskandidaten zu
nominieren. Doch dort könnte die Partei noch kurzfristig umsatteln und einen
neuen Kandidaten festlegen. Biden müsste dafür allerdings aus freien Stücken
aussteigen, denn er hat formal die Vorwahlen seiner Partei gewonnen, und an
deren Ergebnisse sind die Delegierten beim Parteitag vorerst gebunden. Biden
könnte aber etwa gesundheitliche oder familiäre Gründe geltend machen, um sich
gesichtswahrend zurückzuziehen. Ob er dazu bereit wäre, ist fraglich.

Und das noch größere Problem: Einen echten Plan B hat die Partei nicht. Sie
hat es versäumt, einen Nachfolger aufzubauen. Das muss sich allen voran auch
Biden zum Vorwurf machen lassen. Der siebenfache Großvater behauptet von sich,
er sei die am besten qualifizierte Person für den Job, und nur er könne Trump
schlagen. Dies wirkt nun fast vermessen.

Die natürliche Nachfolge wäre Harris gewesen. Doch sie blieb in ihrem
Vizepräsidentenamt bislang blass, ist kaum sichtbar und hat selbst mit miesen
Beliebtheitswerten zu kämpfen. Da sie als erste Frau und erste Schwarze auf das
Amt aufgerückt ist, wäre es aber schwierig gewesen, an ihr vorbei einen
Ersatzkandidaten zu etablieren. Und nun ist es zu spät.

Auch wenn die Option des Biden-Exits theoretisch denkbar wäre, so wäre es
politisch wohl eher aussichtslos. Einen anderen Demokraten innerhalb von vier
Monaten auf nationaler Bühne als Alternative für das Präsidentenamt zu
etablieren, der ähnlich bekannt ist wie Trump, scheint kaum möglich. Trumps
Chancen, wieder ins Weiße Haus einzuziehen, waren nie größer./jac/DP/jha

--- Von Christiane Jacke, Julia Naue und Christian Fahrenbach, dpa ---

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