18.06.2024 16:03:02 - dpa-AFX: POLITIK/ROUNDUP 2: Dritter Terrorprozess gegen 'Reichsbürger'-Gruppe begonnen

(neu: Erklärungen von Verteidigern)

MÜNCHEN (dpa-AFX) - Ein Jurist, eine Ärztin, ein IT-Spezialist, aber auch
eine selbst ernannte Astrologin und ein Angeklagter mit "vermeintlich
seherischen Fähigkeiten": Acht mutmaßliche Mitglieder der "Reichsbürger"-Gruppe
um Heinrich XIII. Prinz Reuß müssen sich seit Dienstag vor dem Münchner
Oberlandesgericht verantworten. Das ist die Gruppe, die nach einer
großangelegten Anti-Terror-Razzia in mehreren Bundesländern und im Ausland Ende
2022 bekanntgeworden war. Die aktuell 26 Beschuldigten sollen einen gewaltsamen
Umsturz der Bundesregierung geplant und dabei bewusst Tote in Kauf genommen
haben. Als Oberhaupt einer neuen Staatsform hätte Reuß fungieren sollen.

Die Bundesanwaltschaft wirft den acht Angeklagten in München die Gründung
beziehungsweise Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und die
Vorbereitung eines sogenannten hochverräterischen Unternehmens vor. Vier Männer
müssen sich zudem wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat
verantworten, einer wegen Verstößen gegen das Waffengesetz. Es ist nach
Stuttgart und Frankfurt der bundesweit dritte Terrorprozess gegen die
"Reichsbürger"-Gruppe um Reuß. In Frankfurt stehen Reuß und die mutmaßlichen
Rädelsführer vor Gericht. In Stuttgart hat die Bundesanwaltschaft mutmaßliche
Mitglieder des "militärischen Arms" angeklagt.

Aber auch mehrere der in München Angeklagten sollen dem "Rat" der
Vereinigung angehört haben - ähnlich einem Kabinett einer rechtmäßigen Regierung
- oder dem Führungsstab des "militärischen Arms". Mehrere Beschuldigte sollen in
die Planungen für den Angriff auf den Bundestag eingebunden gewesen sein oder
sollten daran teilnehmen. Einer der Verteidiger wies die Anklagevorwürfe am
Dienstag für seinen Mandanten scharf zurück, insbesondere den Vorwurf der
Gründung einer terroristischen Vereinigung, und warf der Bundesanwaltschaft eine
einseitige Darstellung vor.

Die Angeklagten in München, die wirken wie durchschnittliche Normalbürger,
verdeckten ihre Gesichter zu Prozessbeginn nur teilweise vor den Kameras der
Presse mit einem Ordner oder einer Zeitung. Anderen waren die Journalisten
offenbar gleichgültig. Der Verlesung der Anklage - die erst beginnen konnte,
nachdem Beamte einen Störer nach lauten Zwischenrufen von der Zuschauertribüne
brachten - folgten die Angeklagten allesamt weitgehend regungslos, maximal mit
einem leichten Kopfschütteln zwischendurch.

Irre Verschwörungstheoretiker oder gefährliche Putschisten - oder beides?

Minutiös hat die Bundesanwaltschaft aufgelistet, was sie den Angeklagten
persönlich und im Zusammenspiel mit den Angeklagten in den anderen Verfahren
vorwirft. Es entsteht ein zugleich skurriles wie erschreckendes Bild der Männer
und Frauen: Waren es Spinner und Verschwörungstheoretiker - oder gefährliche
Hochverräter, Terroristen, Putschisten?

Bei Thomas T. zum Beispiel soll Ende Juli 2021 die Gründungsversammlung der
Gruppe stattgefunden haben. Auch Ruth L. soll zu den Gründungsmitgliedern gehört
und später immer wieder neue Mitglieder rekrutiert haben, etwa die ehemalige
AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann. Laut Anklage übernahmen T.
und L., die ihren Beruf zu Prozessbeginn als "Astrologin, aber eigentlich
Rentnerin" angab, im "Rat" die Leitung des Ressorts "Transkommunikation". Dieses
Ressort war demnach für die spirituelle Überprüfung neuer Ratsmitglieder und die
persönliche Beratung von Reuß zuständig.

Ein Angeklagter soll innerhalb des "militärischen Arms" für die
Waffenbeschaffung zuständig gewesen sein und Mitglieder für den geplanten
Angriff auf den Bundestag ausgerüstet haben. Ein anderer übernahm im
militärischen Führungsstab nach Erkenntnissen der Bundesanwaltschaft die Leitung
des Organisationsbereichs "Menschenwesen": Dieser habe nach einem Umsturz unter
anderem die Militärgerichtsbarkeit übernehmen und Straftaten aburteilen sollen,
auch unter Anwendung der Todesstrafe. Der Jurist G. soll im "Rat" für das
Ressort Äußeres auserkoren gewesen sein, die Ärztin R. für den Bereich
Gesundheit. Auffällig: Corona war von Beginn an ein beherrschendes Thema.
Beispielsweise soll R. immer wieder zum Thema Nebenwirkungen von
Corona-Impfungen referiert haben, so die Anklage.

Vor allem die Ablehnung staatlicher Anti-Corona-Maßnahmen war nach
Darstellung von Rechtsanwalt Wolfgang Heer für seinen Mandanten Thomas T. auch
Anlass für das angebliche Gründungstreffen der Vereinigung Ende Juli 2021. Auch
vor einem "Impfzwang" habe T. große Angst gehabt. Jedenfalls habe dieser aber
keine Vereinigung gegründet, die auf eine Erstürmung des Reichstags abgezielt
hätte.

Heer zitierte zudem aus der Mitschrift eines abgehörten Telefonats, in dem
sich T. (dem "vermeintlich seherische Fähigkeiten" zugeschrieben worden seien)
von Gewalt-Überlegungen klar distanziert habe. Heer sagte über seinen Mandanten:
"Er war strikt dagegen, mit bewaffneten Kräften in das Reichstagsgebäude
einzudringen." In einem Telefonat im Oktober 2023 habe T. seinem Sohn, der bei
der Polizei beschäftigt sei, deshalb einen Tipp geben wollen und diesen gewarnt:
Es gebe da Leute mit "Allmachtsfantasien", die wollten die Regierung stürzen,
die planten da "so einiges" und seien dabei, sich Waffen zu beschaffen. Da seien
"gefährliche Leute" mit dabei. Er habe sich da abgesondert und wolle sich
raushalten, zitierte Heer aus dem Telefonat seines Mandanten.

Eine andere Verteidigerin stellte die Frage, ob sich die Behörden von
Fantastereien einzelner möglicherweise hätten in die Irre führen lassen. Nichts
stehe fest, die Anklageschrift sei nur eine Hypothese, sagte sie.

Das Oberlandesgericht München hat für die Hauptverhandlung zunächst 55
Termine bestimmt, aktuell bis Ende Januar 2025. Eine Verlängerung ist
möglich./ctt/DP/ngu

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