23.05.2024 16:00:26 - dpa-AFX: POLITIK/ROUNDUP 2: Steinmeier sieht 'härtere Jahre' kommen

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BERLIN (dpa-AFX) - Zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes hat Bundespräsident
Frank-Walter Steinmeier die Menschen in Deutschland auf schwierigere Zeiten
eingestellt und zugleich ihren Willen zur Selbstbehauptung beschworen. Bei einem
Staatsakt in Berlin rief er am Donnerstag dazu auf, die Errungenschaften von
Freiheit und Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidigen. "Unsere Demokratie ist
wehrhaft. Wer heute unsere liberale Demokratie bekämpft, muss wissen, dass er es
dieses Mal mit einer kämpferischen Demokratie und mit kämpferischen
Demokratinnen und Demokraten zu tun hat", sagte Steinmeier.

Ein Land in einer Zeit der Bewährung

Der Bundespräsident betonte: "Für mich steht fest: Wir leben in einer Zeit
der Bewährung. Es kommen raue, auch härtere Jahre auf uns zu. Die Antwort darauf
können und dürfen nicht Kleinmut oder Selbstzweifel sein." Falsch wäre es auch,
von einer bequemeren Vergangenheit zu träumen oder täglich den Untergang des
Landes zu beschwören. Dies lähme nur. "Wir müssen uns jetzt behaupten - mit
Realismus, mit Ehrgeiz. Das ist die Aufgabe der Zeit. Selbstbehauptung ist die
Aufgabe unserer Zeit!"

Steinmeier wies in diesem Zusammenhang auf die Bedrohung durch Russland hin. Niemand wisse, wann der Machthunger von Kremlchef Wladimir Putin gestillt sei.
Für ihn sei zwingend: "Wir müssen mehr tun für unsere Sicherheit. Wir müssen in
unsere Verteidigung investieren. Wir müssen unser Bündnis stärken. Und wir
brauchen dafür die finanziellen Mittel." Es brauche aber auch eine starke
Gesellschaft. "Eine starke Gesellschaft, die um den Wert der Freiheit weiß und
die bereit ist, Bedrohungen der Freiheit entgegenzutreten, die um ihren
Zusammenhalt weiß." Militärische Sicherheit und gesellschaftliche
Widerstandskraft gehörten zusammen.

Enorme Aufgaben seien auch der Klimawandel, die soziale Sicherung und die
Wirtschaftskrise. Alle diese Herausforderungen lösen aus Steinmeiers Sicht
Konflikte aus. "Wir müssen uns darauf einrichten: Wir werden in den nächsten
Jahren nicht weniger Streit haben, vielleicht eher mehr. Der Kampf um
finanzielle Ressourcen wird härter werden, und damit natürlich auch der Streit
um das, was wichtig ist."

Aufruf zur Zusammenarbeit und privatem Engagement

Steinmeier rief die demokratischen Parteien zur Zusammenarbeit auf, wo das
gemeinsame Ganze berührt oder bedroht sei. "Die Gemeinsamkeit der Demokraten -
sie ist gefragt, wenn die Demokratie angefochten ist." Zugleich verbreitete
Steinmeier Zuversicht: "Ich bin fest überzeugt: Wir werden diese Zeit der
Bewährung bestehen."

Der Bundespräsident machte deutlich, dass er jetzt nicht nur die politisch
Verantwortlichen in der Pflicht sieht. "Was wir jetzt brauchen, sind Bürgerinnen
und Bürger, die nicht sagen "Was kümmert mich das?", sondern die sagen "Ich
kümmere mich."" Davon gebe es viele Millionen in unserem Land.

Gesamte Staatsspitze beim Staatsakt

An dem Staatsakt im Freien zwischen Reichstag und Kanzleramt nahmen die
Spitzen der fünf Verfassungsorgane teil. Neben dem Bundespräsidenten sind dies
die Präsidentinnen und Präsidenten von Bundestag, Bundesrat und
Bundesverfassungsgericht - Bärbel Bas (SPD), Manuela Schwesig (SPD) und Stephan
Harbarth - sowie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Unter den rund 1100 Gästen
waren auch die früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und Angela Merkel
(CDU) sowie Altbundespräsident Joachim Gauck. Für die Sicherheit und
Verkehrsführung sorgten rund 1000 Polizistinnen und Polizisten.

Steinmeier wurde während seiner Rede immer wieder von Beifall unterbrochen.
Im Anschluss applaudierten ihm die Gäste des Staatsaktes stehend.

Gänsehautmoment mit Margot Friedländer

Steinmeier würdigte das Grundgesetz als ein "großartiges Geschenk" für
Deutschland nach der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. "Ich bin
überzeugt: Diese Verfassung gehört zu dem Besten, was Deutschland hervorgebracht
hat." Den zentralen Satz in Artikel 1 - "Die Würde des Menschen ist
unantastbar." - nannte der Bundespräsident einen "Fixstern". Einen
Gänsehautmoment erlebten die Gäste, als die 102 Jahre alte Holocaust-Überlebende
Margot Friedländer, die dem Tod im Konzentrationslager nur knapp entronnen war,
eben diesen Satz in einer eingespielten kurzen Sequenz zitierte.

Andere Prominente zitierten weitere Grundrechte, die Journalistin Jessy
Wellmer zum Beispiel Artikel 5 ("Die Pressefreiheit und die Freiheit der
Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet."), der in Ghana
geborene Koch Nelson Müller Artikel 3 ("Alle Menschen sind vor dem Gesetz
gleich.") und der Unternehmer Michael Otto Artikel 14 ("Eigentum verpflichtet.
Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.")

Erinnerung auch an 35 Jahre Friedliche Revolution

Steinmeier erinnerte in seiner Rede auch an die Friedliche Revolution in der DDR vor 35 Jahren, die letztlich dazu führte, dass das bis dahin nur in
Westdeutschland geltende Grundgesetz zur Verfassung für ganz Deutschland wurde.
"Das Grundgesetz und die Friedliche Revolution, sie haben die zweite deutsche
Demokratie, oder ich sollte besser sagen, sie haben uns zu dem gemacht, was wir
heute sind. Wir feiern zusammen, weil wir zusammengehören."

Einen dezenten Hinweis darauf, dass 1989/90 vieles nicht so gelaufen ist,
wie sich das die Menschen in Ostdeutschland vorgestellt hatten, gaben Katharina
Thalbach und Andreja Schneider. Sie ließen eine musikalische Zeitreise von 1949
bis 1989 mit der Kinderhymne von Bertolt Brecht ausklingen - die sich manche
Ostdeutsche als neue gesamtdeutsche Nationalhymne gewünscht hätten. Vergeblich.
Und so endete der Staatsakt mit "Einigkeit und Recht und Freiheit"./sk/DP/ngu

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