05.07.2024 15:27:51 - dpa-AFX: ROUNDUP/Neuer Premier Starmer: Großbritannien braucht einen Neustart

LONDON (dpa-AFX) - Großbritannien hat erstmals seit mehr als einem Jahrzehnt
wieder einen sozialdemokratischen Premierminister. Keir Starmer (61), dessen
Labour-Partei die Parlamentswahl deutlich gewonnen hat, warb für einen Neustart.
"Unsere Arbeit ist dringend und wir beginnen heute damit", sagte er bei seinem
ersten Auftritt in der Londoner Downing Street. Er gestand aber auch ein, dass
sich dies nicht kurzfristig erreichen lasse und zeigte Verständnis für
Politikverdrossenheit im Land.

Ein Land zu verändern sei nicht vergleichbar mit dem Umlegen eines
Schalters. "Das wird etwas dauern", sagte Starmer, nachdem ihn König Charles
III. mit der Regierungsbildung beauftragt hatte. Mit seiner Partei löst er nach
14 Jahren die Konservativen des bisherigen Regierungschefs Rishi Sunak ab, die
vor einem Scherbenhaufen stehen.

Starmer ist der erste Premierminister von Labour seit Gordon Brown und Tony
Blair. Seine Partei kommt nach Auszählung fast aller Wahlkreise auf mindestens
412 von 650 Sitzen im Unterhaus (House of Commons). Bei der Wahl 2019 hatte die
Partei bloß 202 Mandate geholt. Die Konservativen brechen von bisher 365 auf
etwa 120 Sitze ein. Dabei wurden so viele Kabinettsmitglieder abgewählt wie nie.

Wie ein Wahlforscher den Umbruch erklärt

Den Wahlsieg verdankt Labour vor allem der schwindenden Unterstützung für
die konservativen Tories. Der Anteil an Wählerstimmen für Labour betrug nach
bisherigem Stand gerade einmal 34 Prozent. Dass es trotzdem zu einer satten
Mehrheit an Sitzen im Unterhaus reichte, liegt vor allem am britischen
Mehrheitswahlrecht, bei der in jedem Wahlkreis nur der Kandidat oder die
Kandidatin mit den meisten Stimmen ins Parlament einzieht.

Meinungsforscher John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow
erklärte das Wahlergebnis nicht in erster Linie mit Begeisterung für Labour,
sondern mit Verdruss über die bisherige Regierung.

Sunak war bereits der dritte Regierungschef seiner Partei in der vergangenen Legislaturperiode, die von wirtschaftlicher Stagnation, zahlreichen Skandalen
und stark steigenden Lebenshaltungskosten geprägt war. Sunak hatte im Oktober
2022 von der damaligen Regierungschefin Liz Truss übernommen, die nach nur 49
Tagen im Amt zurückgetreten war und nun auch ihren Sitz im Unterhaus verliert.

Britische Konservative stehen vor einem Scherbenhaufen

Für Sunaks Konservative gleicht die Wahl einem Alptraum. "Erdrutsch" und
"Massaker" lauten einige Schlagzeilen der britischen Presse. Sunak kündigte
seinen Rücktritt als Parteichef an. Er wolle den Posten abgeben, sobald die
formalen Regelungen für die Nachfolge geklärt seien, sagte er. "Dem Land möchte
ich zuallererst sagen: Es tut mir leid."

Bei den Konservativen stellt sich nun die Frage, wer die Partei und damit
die Opposition im Londoner Parlament anführen soll. Als Kandidatin galt Penny
Mordaunt, die auch bekannt dafür ist, bei Charles' Krönung ein Schwert getragen
zu haben. Die bisherige Ministerin für Parlamentsfragen verpasste allerdings den
Einzug ins Parlament.

Interesse nachgesagt wird auch der bisherigen Handelsministerin Kemi
Badenoch und der früheren Innenministerin Suella Braverman, die beide noch
weiter rechts stehen. Als moderatere potenzielle Kandidaten gelten der bisherige
Innenminister James Cleverly und der bisherige Staatssekretär Tom Tugendhat. Auf
die Frage, ob er sich bewerben wolle, antwortete Cleverly dem Sender Sky News
eher ausweichend.

Rechtspopulist Farage macht Kampfansage

Mandate verloren haben die Konservativen wohl nicht nur an Labour. Die
Liberaldemokraten konnten deutliche Zugewinne verbuchen. Die schottische
Nationalpartei SNP dagegen verlor bei der Parlamentswahl. Etliche Stimmen gehen
auch an die rechtspopulistische Partei Reform UK. Deren Vorsitzender Nigel
Farage, der einst den Brexit maßgeblich vorangetrieben hatte, schafft es im
achten Anlauf erstmals ins Unterhaus. Seine Partei dürfte die Tories weiter
unter Druck setzen. Farage sprach bei der Plattform X bereits vom "Ende der
Konservativen Partei, wie wir sie kennen".

Viele Briten haben genug von den Problemen

Auf den neuen Premier kommen etliche Herausforderungen zu - etwa die
Überlastung des staatlichen Gesundheitsdiensts NHS, Probleme in der
Wohnungspolitik oder die Frage, wie das Land mit Einwanderung umgehen will.
Kippen dürfte Starmer den Plan der bisherigen Regierung, irreguläre Migranten
ungeachtet ihrer Herkunft nach Ruanda abzuschieben. Eine Rückkehr seines Landes
in die EU hat er ausgeschlossen.

Große Begeisterung löst der als langweilig geltende Politiker bei den Briten nicht aus. In vielen Politikbereichen blieb er vage. Die Parteiführung hatte
Starmer von dem Alt-Linken Jeremy Corbyn übernommen, dem vorgeworfen wurde,
nicht genug gegen Antisemitismus in seiner Partei zu tun. Starmer ging dagegen
vor und führte die Partei zurück in die politische Mitte. Der Krieg im
Gazastreifen führte allerdings in seiner Partei, die traditionell den
Palästinensern nahesteht, immer wieder zu Spannungen.

Im Wahlkampf hatte Starmer seine bürgerliche Herkunft betont - sein Vater
sei Werkzeugmacher und seine Mutter Krankenschwester gewesen. Weil seine Mutter
schwer krank war, übernahm Starmer schon früh Verantwortung in der Familie, wie
sein Biograf Tom Baldwin schreibt. Starmer ist Anhänger des Londoner
Fußballvereins FC Arsenal und will auch selbst noch ab und an auf dem
Fußballplatz stehen. Die Freitagabende will er sich weiterhin möglichst für
Ehefrau Victoria und seine beiden Kinder im Teenageralter freihalten./cmy/DP/jha

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