15.07.2024 10:56:44 - dpa-AFX: Börse Frankfurt-News: Investments in Indien - zu gehypt und zugleich kaum entdeckt

FRANKFURT (DEUTSCHE-BOERSE AG) - Zu den wichtigsten Entwicklungen für
Schwellenländer-Anleger in den vergangenen Jahren gehört der Aufstieg Indiens.
Bemerkenswert dabei ist, dass dieser Aufstieg zugleich von Skepsis begleitet
wird - auch wegen einer falschen China-Analogie. Es ist Zeit, sich mit diesem
für viele noch immer fremden Investment-Universum zu beschäftigen, empfiehlt Ali
Masarwah, Fondsanalyst und Geschäftsführer des Finanzdienstleisters envestor.

15. Juli 2024. Bereits die gängige Bezeichnung von Indien als "Subkontinent"
weckt falsche Assoziationen. Wenn Australien mit seinen 26 Millionen Einwohnern
als "Kontinent" geadelt wird, sollten wir die Übertragung geografischer Begriffe
in unsere Alltagssprache hinterfragen. Mit über 1,4 Milliarden Menschen ist
Indien das bevölkerungsreichste Land der Erde, und im Gegensatz zu China ist das
Wirtschaftswachstum ungebrochen hoch. Wir haben bereits an dieser Stelle auf
Tücken und Missverständnisse zu Emerging-Markets-Investments hingewiesen.

Indische Aktien sind mit einem Gewicht von knapp 20 Prozent inzwischen eine
Macht im Index MSCI Emerging Markets. Vor zehn Jahren betrug das Gewicht von
Indien-Aktien in dieser globalen Benchmark noch weniger als sieben Prozent, und
damals sprachen alle nur von China. Heute ziehen Fondsanleger weltweit Gelder
aus China- und globalen Emerging Markets Fonds ab - mit einer wichtigen
Ausnahme: Fonds für indische Aktien sind für Anleger weltweit der letzte Schrei:
Seit März 2023 wurden knapp 30 Milliarden Dollar in Indien-Aktienfonds gepumpt.
Das sind Rekordsummen. Das hat Folgen: Inzwischen zählt der indische Aktienmarkt
zu den teuersten Märkten weltweit.

Das Paradoxon ist, dass der indische Markt zugleich ein Niemandsland für
Investoren aus den Industrieländern geblieben ist. Erst vor wenigen Wochen
wurden indische Staatsanleihen in den wichtigen Index JPMorgan Emerging Markets
Bond aufgenommen. Zunächst nur mit einem Gewicht von einem Prozent. Doch die
Quote wird sich in den nächsten Monaten zügig auf zehn Prozent erhöhen.

Die Frage: Terra incognita oder Hype-Markt zeigt, dass Differenzierung Not tut.
Zunächst müssen wir uns von falschen Analogien verabschieden. Dass Indiens
Aufstieg mit dem Chinas verglichen wird, bringt Kritiker auf den Plan: Mit
deutlich unter zehn Prozent BIP-Wachstum pro Jahr wachse China zu anämisch. Doch
diese Kritik verkennt, dass China vor 20 Jahren in beispielloser Weise von der
Globalisierung profitierte und sich zur Werkbank der Weltwirtschaft aufschwingen
konnte. Indien dagegen wächst aktuell mit einer Rate von gut sieben Prozent in
Zeiten, in denen Re-Shoring und nicht Globalisierung das Motto vieler
Regierungen ist.

Real wächst Indien wie nie zuvor. Ein Grund ist die restriktive Geldpolitik der
indischen Zentralbank. Der Zins verharrt bei 6,5 Prozent, obwohl die
Inflationsrate mit unter fünf Prozent für indische Verhältnisse moderat ist.
Auch wenn das Haushaltsdefizit Indiens im Zuge der Corona-Krise - wie in den
meisten Ländern - dramatisch nach oben auf über acht Prozent gesprungen ist,
gilt die Regierung Modi nicht als spendierfreudig. Im Gegensatz zu den USA sind
nach 2020 keine Schecks an Haushalte für den Konsum verschickt worden, vielmehr
wurde der Anteil der Investitionen an den staatlichen Ausgaben gesteigert.
Inzwischen ist das Haushaltsdefizit deutlich gesunken und soll 2025 auf rund
fünf Prozent zurückgehen. Flankiert wird die investitionsfreudige Politik Modis
mit einer konsequenten Inflationsbekämpfung. Diese Linie wird auch nach den
Wahlen fortgesetzt.

Indien-Bonds dürften daher den globalen Anleihen-Benchmarks Stabilität
verleihen. Auch wenn sie bisher nicht auf dem Radar der meisten Anleger gelandet
sind: Es gibt auch für Anleger in Deutschland eine nicht einmal kleine Auswahl
an Indien-Anleihen-Fonds und -ETFs. Man muss also nicht zwingend auf die
JPMorgan-Benchmark warten.

Wenn es um Aktien geht, müssen Anleger behutsam vorgehen. Die Bewertungen sind
aktuell mit einem Forward-KGV von 22 beim Index NSE 500 weit über dem
langjährigen Durchschnitt von 16,4. Indische Aktien weisen aktuell eine
Bewertungsprämie von 68 Prozent gegenüber dem MSCI Emerging Markets auf. Das ist
auch eine Funktion der stetig sinkenden Bewertung von chinesischen Aktien, die
noch immer das größte Gewicht in den Emerging-Markets-Benchmarks haben, aber
eben nicht nur.

Gehypt werden aktuell Nebenwerte, die von lokalen Anlegern in einer
beispiellosen FOMO (Fear of Missing Out)-Welle nach oben getrieben werden.
Zugleich werden aktuell Value-Aktien aus den klassischen Branchen Energie,
Versorger und Industrietitel hoch gekauft - interessanterweise tragen dazu auch
ETF-Investoren aus den USA und Europa bei. Rund zehn Prozent der klassischen
Aktien-Benchmarks setzen sich aus staatlichen Unternehmen zusammen, und die
profitieren von den Rekordzuflüssen in ETFs.

Indien ist traditionell ein Markt, in dem qualitativ hochwertige Aktien aus den
Branchen defensive Konsumgüter, IT, Pharma und Finanzen die beste Performance
geliefert haben. Diese Aktien sind im Zuge der Corona-Krise und der gestiegenen
Inflation - die Energiepreise sind auch in Indien stark gestiegen - ins
Hintertreffen geraten. In den vergangenen 24 Monaten sind zyklische Werte in
Indien sowie Nebenwerte teuer geworden, während Quality-Aktien billiger geworden
sind - aber eben nicht per se billig. Der Zugang zu indischen Aktien ist
komplex, aber die Aussichten sind dennoch gut: Die stetige Entwicklung des
indischen Kapitalmarkts, der verbesserte Zustand der indischen Demokratie nach
dem Denkzettel für Strongman-Modi bei der Parlamentswahl und die Aussicht auf
weitere Strukturreformen sollten Investoren dazu bewegen, sich mit diesem
spannenden Markt auseinanderzusetzen.

Von Ali Masarwah, 15. Juli 2024, © envestor.de

Ali Masarwah ist Fondsanalyst und Geschäftsführer von envestor.de, eine der
wenigen Fondsplattform, die Cashbacks auf Fonds-Vertriebsgebühren zahlt.
Masarwah analysiert seit über 20 Jahren Märkte, Fonds und ETFs, zuletzt als
Analyst beim Research-Haus Morningstar. Seine Expertise wird auch von
zahlreichen Finanzmedien im deutschsprachigen Raum geschätzt.

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