28.06.2024 10:04:55 - dpa-AFX: HINTERGRUND/Dunkle Wolken über dem Polder: Niederlande auf radikal-rechtem Kurs

DEN HAAG (dpa-AFX) - Ungläubig fasst sich Geert Wilders in den platinblond
gefärbten Haarschopf und führt einen kleinen Freudentanz auf. Das war am 22.
November. Der radikal-rechte Populist (60) war mit seiner Partei für die
Freiheit (PVV) stärkste Kraft bei der Parlamentswahl in den Niederlanden
geworden. Nach gut 20 Jahren in der Opposition stand der Rechtsaußen vor seinem
großen Triumph: Er konnte mitregieren.

Gut sieben Monate später steht die Koalition von Wilders Anti-Islam-Partei
mit drei anderen rechten Parteien. An diesem Freitag kommt die Regierung zur
konstituierenden Sitzung zusammen, nächsten Dienstag wird sie von König
Willem-Alexander vereidigt.

"Wir schreiben heute Geschichte", hatte Wilders bei der Präsentation der
Koalitionsvereinbarung gesagt. "Die Sonne wird wieder scheinen in den
Niederlanden."

Doch der Rechtsruck wird Folgen haben für das Land mit einer langen
Tradition von Toleranz für Minderheiten. Das lockere Land an der Nordsee hat
über Jahrhunderte die Suche nach dem Konsens zur Lebensmaxime erhoben. Radikale
Meinungen sind verpönt. Doch nun steht das Land vor einem Experiment mit großen
Risiken.

Das neue Bündnis ist nicht gerade stabil, das bewiesen bereits die mühsamen
Verhandlungen. Nur die rechtsliberale VVD des bisherigen Premiers Mark Rutte hat
überhaupt Regierungserfahrung. Neu sind die Mitte-Rechts-Partei NSC und die
populistische Bauernpartei BBB, entstanden aus den massiven Bauernprotesten der
vergangenen Jahre. VVD und NSC stimmten nur sehr widerstrebend der Koalition mit
Wilders zu.

Dafür musste Wilders tief in die Knie gehen. Einen Großteil seiner
Forderungen legte er auf Eis - wie das Verbot des Koran und den Nexit
- den Austritt der Niederlande aus der EU. Er verzichtete sogar auf
das Amt des Regierungschefs. Das wird nun der parteilose ehemalige Beamte Dick
Schoof übernehmen.

Doch wie dauerhaft ist Wilders Wandel?

Die gemäßigten Parteien bestanden auf einer gemeinsamen Erklärung zum
Respekt des Rechtsstaates. Alle vier beteuern, dass sie sich daran halten
werden. Doch dass überhaupt die Treue zur Verfassung nicht selbstverständlich
ist, ist für viele ein düsteres Vorzeichen.

Die Sorgen - auch bei den Koalitionspartnern - wurden noch größer, als die
Namen der künftigen Minister und Staatssekretäre der PVV bekannt wurden. Bei
vielen sträubten sich die Nackenhaare: Künftige Minister und Staatssekretäre
hatten sich zuvor vor allem mit rassistischen und rechtsextremen Äußerungen
hervorgetan.

Zum Beispiel Marjolein Faber, die neue Asyl-Ministerin. Sie ist wegen ihrer
sehr extremen Standpunkte zum Islam und zur Migration am heftigsten umstritten.
So vertrat sie etwa jahrelang die "Umvolkungs"-Theorie. Mit diesem Nazi-Begriff
umschreiben Rechtsextremisten den angeblich von einer Elite geplanten
Bevölkerungsaustausch durch Migration. Die Sicherheitsdienste sprechen von einer
extrem gefährlichen Verschwörungstheorie.

Wohl auch unter Druck der Koalitionspartner kam Anfang dieser Woche
plötzlich die Wende: Bei einer Anhörung im Parlament distanzierte sich Faber von
den Aussagen über Bevölkerungsaustausch. "Ich habe das als
Oppositionspolitikerin gesagt. Aber als Ministerin werde ich mich benehmen, wie
es sich für einen Minister gehört." Doch die Opposition hat große Zweifel an
ihrer Aufrichtigkeit. Schließlich bekräftigte sie zugleich, dass Migration für
eine "sehr besorgniserregende demografische Entwicklung" sorge.

Zweifel gibt es auch an der Kompetenz der radikal-rechten
Regierungsmitglieder. Kaum einer hat Erfahrung in leitenden Positionen. Dabei
sind ein früherer Bekämpfer von Bisamratten und die Mitarbeiterin eines extrem
rechten TV-Senders.

Für die renommierte Kolumnistin der "Volkskrant", Sheila Sitalsing, ist
deutlich: "Geert Wilders kann nichts und will nichts." In mehr als 20 Jahren sei
er nicht in der Lage gewesen, sich ein stabiles Netzwerk von fähigen Leuten
aufzubauen. Jetzt räche es sich, dass er keine normale Partei habe, er sei
einziges Mitglied. "Wilders will den Alleingang, er will totale Kontrolle", sagt
Sitalsing.

Die Frage ist: Wie wird er sich künftig aufstellen? Seit gut 20 Jahren sitzt er in der Zweiten Kammer und provoziert aus der Opposition heraus. Kaum jemand
kann es sich vorstellen, dass er sich zurückhalten wird. Wird der neue Premier
Schoof aber dem Druck standhalten oder lässt er sich wie eine Marionette von
Wilders dirigieren?

Erste Hürde für den 67-jährigen Schoof ist das Regierungsprogramm. Bisher
gibt es nämlich nur eine Koalitionsvereinbarung, in der die Pläne grob skizziert
werden. Einzelheiten muss die neue Regierung ausarbeiten. Doch inhaltlich liegen
die Parteien weit auseinander. Einzig über eine drastische Reduzierung der
Zuwanderung sind sie sich einig.

Wilders Wähler erwarten eine radikale Wende: Weniger Asylsuchende, weniger
Migranten, weniger Umweltauflagen für Bauern, mehr Geld im Portemonnaie, mehr
Wohnungen. Wilders versprach "die strengste Asylpolitik, die es jemals gab". Und
die Chefin der Bauernpartei, Caroline van der Plas, kündigte an: "Wir werden in
Brüssel auf den Tisch hauen."

Doch schon jetzt ist deutlich, dass die neue Regierung kaum liefern kann:
Weil internationale Verträge es nicht zulassen, weil die Grenzen nicht
geschlossen werden können oder weil es schlicht zu teuer ist.

Sogar die rechte Tageszeitung "De Telegraaf" zweifelt, ob diese Regierung
bis Weihnachten standhält. "Gegenseitiges Misstrauen und Mangel an Respekt"
stellte Chefkommentator Wouter de Winther fest. "Die neue Regierung muss noch
vereidigt werden, doch schon jetzt weist alles darauf hin, dass sowohl VVD als
auch NSC wissen, dass sie nur kurz dort bleiben werden."

Doch was dann? Wilders gemäßigte Partner fürchten Neuwahlen. Der Populist
würde die Schuld für das Scheitern auf seine Partner abschieben und auf Europa.
Die mögliche Folge: Die Wut der Bürger würde noch größer und Wilders PVV noch
stärker. Das zeichnet sich bereits in den Umfragen ab./ab/DP/jha

--- Von Annette Birschel, dpa ---

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