02.07.2024 06:29:18 - dpa-AFX: POLITIK: Weit weg und immer noch da - Horst Seehofer wird 75

MÜNCHEN (dpa-AFX) - Horst Seehofer ist weg, ganz weit weg. Für jemanden, der
mehr als vier Jahrzehnte lang Politik an vorderster Front gemacht hat, immer im
Feuer, immer im Rampenlicht, hat er den Ausstieg in erstaunlicher Weise
geschafft. Kaum hatte er sein letztes Spitzenamt als Bundesinnenminister Ende
2021 abgegeben, war er auch schon von der Bildfläche verschwunden. Ein, zwei
etwas größere Auftritte absolvierte er seither, zuletzt im Europawahlkampf für
den CSU-Spitzenkandidaten Manfred Weber, mehr nicht. Im Gespräch heute gewinnt
man den Eindruck: Der ehemalige Spitzenpolitiker Seehofer ist heute ein äußerst
zufriedener Polit-Rentner. Alte Weggefährten bestätigen dies.

Phantomschmerzen, wie manche andere vor ihm? Fehlanzeige. "Das war mein
Vorsatz - und das ist mir auch gelungen", sagt er. Und was Seehofer noch einhält
(und was viele ihm nicht zugetraut hätten): Dass er, der einst mit wenigen
Worten Koalitionen ins Wanken bringen oder seine ganze Partei verunsichern
konnte, nun seit zweieinhalb Jahren schweigt, von ganz seltenen Ausnahmen
abgesehen. Am Donnerstag (4. Juli) nun feiert er seinen 75. Geburtstag.

Seehofer genießt sein neues, ruhigeres Leben fernab von München und Berlin.
"Das ist ein unheimlicher Befreiungsschlag: Keinen Verantwortungsdruck mehr
haben, in keine festen Pläne mehr eingebunden sein. Ich mache nur noch
Wohlfühltermine und was mir Spaß macht", sagt er. "Ich setze mich hier vor Ort
für die Hochschulen, die Kirche, Sportvereine ein, helfe mit Rat und manchmal
auch mit Tat. Außerdem bin ich viel in der Natur unterwegs, gehe zu vielen
Stammtischen und Gesprächskreisen mit Freunden. Mir wird nicht langweilig." Und
Seehofer liest viel, fährt Fahrrad, E-Bike, arbeitet nebenbei an der
Digitalisierung seiner Modelleisenbahn. Die Nachrichten scannt er täglich, aber
nur wenige Artikel liest er komplett.

"Ich gehe in keine Talkshow"

Auf CSU-Parteitagen oder bei Vorstandssitzungen hat man Seehofer als
Pensionär ohnehin nicht mehr gesehen. "Ich halte mich mit öffentlichen
Äußerungen komplett zurück, bis auf vielleicht ein Interview pro Jahr. Ich gehe
auch in keine Talkshow", sagt er und betont: "Vor allem die Grundentscheidung,
die Politik meines Nachfolgers nicht zu bewerten, war richtig." Wobei man sagen
muss: Wie schlecht es um das Verhältnis Seehofer-Söder bestellt ist, ist
allgemein bekannt. Dazu braucht es keine neuen Interviews, von keinem der
beiden.

Interessant ist indes schon, was Seehofer in einem aktuellen Interview der
"Augsburger Allgemeinen" über die Lage von CDU und CSU sagt: dass er das
Potenzial für die Union insgesamt bei 30 bis 40 Prozent sieht, und für die CSU
bei "weit über 40 Prozent". "Wir erreichen derzeit aber nur den unteren Rand,
bestenfalls." In den vergangenen Jahren sei eigentlich überhaupt kein
Wahlergebnis mehr aus seiner Zeit erreicht worden. "Ich schildere nur Tatsachen,
ohne Vorwurf", schiebt Seehofer hinterher. Und wen hält er für den richtigen
Mann für die Unions-Kanzlerkandidatur, CDU-Chef Friedrich Merz? "Ja", sagt
Seehofer. "Er macht seine Arbeit als Partei- und Fraktionsvorsitzender sehr gut.
Er hat die CDU geordnet."

Mehr als vier Jahrzehnte Politik

Seehofers Lebensleistung wird indes nicht einmal von den seinen politischen
Gegnern und Kontrahenten ernsthaft in Zweifel gezogen. Einen Großteil seines
Lebens, insgesamt mehr als vier Jahrzehnte, hat er in den Dienst der Politik
gestellt. Insgesamt 28 Jahre saß er für die CSU im Bundestag. Er brachte es zum
Bundesminister, zum Parteichef und bayerischen Ministerpräsidenten. Dabei hat er
Höhen und Tiefen erlebt wie kaum ein anderer, persönlich und politisch. 2002
erlitt er eine Herzmuskelentzündung, die ihn fast das Leben kostete.

Und auch politisch durchlebte Seehofer ein Auf und Ab: Seine gesamte
Karriere stand auf dem Spiel, als er einst im Streit über die Gesundheitspolitik
als Bundestags-Fraktionsvize zurücktreten musste. Jahre später unterlag er im
Kampf um den CSU-Vorsitz seinem Rivalen Erwin Huber - bevor er nach der
Landtagswahl-Pleite 2008 doch noch zum Zuge kam.

Als bayerischer Ministerpräsident regierte Seehofer einige Jahre lang
unangreifbar - aber nicht unumstritten: Seine Kritiker warfen ihm einen
autokratischen Regierungsstil vor. Und dass er ein gnadenloser Populist sei und
seinen Kurs ändere wie ein Fähnchen im Wind.

"Soziales Gewissen" der CSU

Ein historisch bleibendes Verdienst Seehofers ist eine Reise, die ihn Ende
2010 nach Prag führte. Seehofer war es, der nach langem Streit um die
Vertreibung der Sudetendeutschen eine politische Eiszeit beendete: Mit dem
ersten Besuch eines bayerischen Regierungschefs in Prag schlug er damals ein
ganz neues Kapitel in den Beziehungen zu Tschechien auf. Und was Seehofer noch
auszeichnete: ein sozialer Kompass, der manchen Politikern heute zu fehlen
scheint. "Soziales Gewissen" der CSU wurde er früher genannt, mit einem Blick
für die "kleinen Leute" - auch er selbst hatte sich aus ärmeren Verhältnissen
hochgearbeitet.

"Das schönste Amt war tatsächlich das Ministerpräsidenten-Amt, wegen des
Kontakts zu so vielen Menschen überall im Land", sagt Seehofer heute. "Manche
meinen ja sogar, Sie sind der Königsnachfolger, daran hat sich bis heute nichts
geändert. Und die schönste Erfahrung war, dass wir 2013 die absolute Mehrheit im
Landtag noch einmal zurückerobern konnten."

Siege und bittere Niederlagen

Doch auf Höhenflüge wie diesen folgten auch in Bayern schmerzliche
Niederlagen für Seehofer. Sein Karriereende als bayerischer Ministerpräsident
und als CSU-Chef zögerte er hinaus, ungeachtet immer neuer Wahlpleiten. Bis der
wachsende CSU-interne Druck ihn schließlich zum Ämterverzicht auf Raten zwang.
Es war eine der letzten bitteren Niederlagen Seehofers: Er musste damals
ausgerechnet seinem langjährigen Rivalen Söder Platz machen.

Doch Seehofer machte weiter - in Berlin. Mit damals 68 Jahren wurde Seehofer Anfang 2018 Bundesinnenminister, mit Zuständigkeiten auch für Bauen und Heimat.
Unter Kanzlerin Angela Merkel, mit der er sich zuvor jahrelang über die
Flüchtlingspolitik gestritten hatte.

Seehofer aber blieb sich treu: Auch im neuen Amt brachte er ab und an die
halbe Republik gegen sich auf. Einmal drohte er Merkel spektakulär mit
Rücktritt, wieder ging es um die Asyl- und Flüchtlingspolitik - um dann am Ende
doch klein beizugeben. Spektakuläre Volten stellte Seehofer, im Brustton der
Überzeugung, im Übrigen stets als völlig stringent dar.

Eigene Fehler sieht er rückblickend nur einzelne. "Meine erste Reform als
Bundesgesundheitsminister würde ich heute anders gestalten, flexibler, nicht
mehr so hart", sagt er. Kritik, er habe als bayerischer Ministerpräsident den
Bau von Stromtassen oder Windrädern gebremst, lässt er nicht gelten. "Ich stehe
zu dem, was wir entschieden haben, und zwar zu 100 Prozent", sagt er. "Wir haben
dadurch viel Unfrieden vermieden."

Was wünscht er sich für die Zukunft? "Politisch hätte ich einen Wunsch: dass noch deutlich mehr getan wird für Kinder aus benachteiligten Familien - damit
diese auch eine vernünftige Ausbildung bekommen. Bildung ist nun einmal das Tor
zum Leben", sagt er. "Und persönlich habe ich eigentlich nur einen Wunsch:
Gesundheit für meine Umgebung und für mich."/ctt/had/DP/zb

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