07.07.2024 23:00:03 - dpa-AFX: GESAMT-ROUNDUP/Frankreichwahl: Linke überraschend vorn, Premier will gehen

PARIS (dpa-AFX) - Überraschung in Frankreich: Bei der Parlamentswahl liegt
entgegen aller Erwartungen Hochrechnungen zufolge das Linksbündnis vorn. Das
rechtsnationale Rassemblement National schnitt deutlich schlechter ab als
angenommen. Es dürfte nur auf dem dritten Platz hinter dem Mitte-Lager von
Staatspräsident Emmanuel Macron landen, wie die Sender TF1 und France 2 nach
Schließung der Wahllokale berichteten. Die absolute Mehrheit von 289 Sitzen
dürfte aber keines der Lager erreichen.

Premierminister Gabriel Attal zog nach der Wahl Konsequenzen und kündigte
an, seinen Rücktritt einzureichen. Ob Präsident Macron das Rücktrittsgesuch
annehmen wird, ist offen.

Linke sehen sich in Regierungsverantwortung

Die Linken machten nach ihrem Überraschungssieg prompt ihren
Regierungsanspruch klar. "Wir haben gewonnen und jetzt werden wir regieren",
sagte Grünen-Generalsekretärin Marine Tondelier. Auch der Gründer der
französischen Linkspartei Jean-Luc Mélenchon verlangte von Macron, das
Linksbündnis zum Regieren aufzufordern.

Das linke Bündnis Nouveau Front Populaire könnte den Zahlen zufolge auf 177
bis 198 der 577 Sitze kommen. Macrons Kräfte bekommen demnach 152 bis 169
Mandate und das Rassemblement National (RN) um Marine Le Pen und seine
Verbündeten 135 bis 145.

Überraschungserfolg mit Zweckbündnis

Das Ergebnis kommt in Frankreich vollkommen überraschend. Nach der ersten
Wahlrunde vor einer Woche sahen Prognosen das RN noch knapp unter der absoluten
Mehrheit und damit möglicherweise in der Lage, die nächste Regierung zu stellen.
Deutlich zugelegt hat das RN dennoch: Im aufgelösten Parlament hatte es noch 88
Sitze.

Linke und Macrons Mitte-Kräfte hatten vor der zweiten Wahlrunde eine
Zweckallianz gebildet. Um sich in Wahlkreisen, in denen drei Kandidaten in die
zweite Runde kamen, nicht gegenseitig Stimmen wegzunehmen und dem RN so lokal
zum Sieg zu verhelfen, zogen sich etliche Kandidaten der Linken und der
Liberalen zurück. Ihre Wählerschaft riefen sie dazu auf, in jedem Fall gegen das
RN zu stimmen.

Das Ergebnis zeigt nun ganz klar: Trotz aller Zweifel hält die Brandmauer
gegen Rechts. Die Wahlbeteiligung lag mit 67,5 Prozent deutlich über den Werten
der vergangenen Jahre.

Führung und interne Ausrichtung der Linken offen

Frankreichs gespaltene Linke hatte sich erst vor wenigen Wochen für die
Parlamentswahl zum Nouveau Front Populaire zusammengeschlossen. Bei der
Europawahl Anfang Juni waren die Parteien noch einzeln angetreten. Streit gibt
es innerhalb der Linken vor allem über die altlinke Führungsikone Mélenchon. Der
Populist, der mit euroskeptischen Aussagen auffällt und einen klar
propalästinensischen Kurs fährt, wird selbst in seiner Partei heftig kritisiert.

Eine klare Führung hat das Bündnis aus Linken, Kommunisten, Sozialisten und
Grünen nicht. Auch ein gemeinsames Programm gibt es nicht.

Kommt Minderheitsregierung oder Große Koalition?

Wie es weitergeht, ist vorerst unklar. Ob die Linken alleine eine
Minderheitsregierung auf die Beine stellen können, ist ungewiss. Die anderen
Fraktionen könnten eine solche Regierung per Misstrauensvotum stürzen.

Die Linken könnten auch versuchen, von den Mitte-Kräften Unterstützung zu
bekommen - entweder als eine Minderheitsregierung mit Duldung oder in einer Art
Großen Koalition. Angesichts der gegensätzlichen politischen Ausrichtungen ist
allerdings nicht abzusehen, ob dies gelingen könnte. Sozialistenchef Olivier
Faure sprach sich zudem bereits gegen eine Koalition mit Macrons Lager aus. Der
führende Sozialdemokrat Raphaël Glucksmann brachte Zusammenarbeiten bei
einzelnen Vorhaben ins Spiel.

Aus dem Élysée-Palast hieß es, die Frage werde sein, ob eine Koalition mit
Zusammenhalt gebildet werden kann, um die absolute Mehrheit zu erreichen, wie
der Sender BFMTV berichtete.

Muss Macron Macht abgeben?

Unklar ist, ob Staatschef Macron nun den Rücktritt Attals annehmen und einen Linken zum Premier ernennen wird. In einer solchen Konstellation würde Macron an
Macht einbüßen, der Premier, der die Regierungsgeschäfte leitet, würde
wichtiger.

Was dies für Deutschland und Europa hieße, ist unklar und hinge wohl stark
davon ab, wer auf den Posten käme. Das Linksbündnis vertritt bei vielen großen
politischen Themen sehr unterschiedliche Positionen.

Ohne Mehrheit droht Stillstand

Sollte keines der Lager eine Regierungsmehrheit finden, könnte die aktuelle
Regierung übergangsweise die Amtsgeschäfte führen oder eine Expertenregierung
eingesetzt werden. Frankreich droht in einem solchen Szenario politischer
Stillstand. Eine erneute Auflösung des Parlaments durch Macron und Neuwahlen
sind erst im Juli 2025 wieder möglich.

Für Deutschland und Europa hieße das, dass Paris als wichtiger Akteur in
Europa und als Teil des deutsch-französischen Tandems nicht mehr tatkräftig zur
Verfügung stehen würde.

RN-Sieg hätte Folgen für Deutschland und Europa gehabt

Brüssel und Berlin dürften von dem Wahlausgang erleichtert sein. Eine
Regierung der Rechtsnationalen, wohl das Schreckszenario für Deutschland und die
EU, scheint abgewendet. Das RN hält im Gegensatz zu Macron wenig von der seit
Jahrzehnten engen Zusammenarbeit mit Berlin. Die Europaskeptiker streben zudem
danach, den Einfluss der EU in Frankreich einzudämmen.

Zweifel am Wandel von Le Pens Partei

Den Rechtsnationalen wurde das Zweckbündnis der linken und liberalen Kräfte
für die zweite Wahlrunde zum großen Nachteil. Außerdem gab es Aufregung um
frühere, mutmaßlich rechtsextreme oder antisemitische Aussagen von
RN-Kandidaten. Dies säte Zweifel an der von Marine Le Pen betriebenen
"Entteufelung" der Partei. Mit diesem Kurs versucht Le Pen seit Jahren, ihre
Partei gemäßigter erscheinen zu lassen und bis in die bürgerliche Mitte hinein
wählbar zu machen.

RN-Chef Jordan Bardella beschimpfte die politischen Gegner noch am Abend der Wahl. Das Mitte-Lager von Macron und das Linksbündnis bezeichnete er als
"Einheitspartei" und "Bündnis der Schande".

Linkes Lager profitiert von Einigkeit und Angst vor rechts

Die Linken profitierten von ihrem im Eiltempo gebildeten Bündnis. Auch dass
sie die Führungsfrage offen ließen, dürfte ihnen geholfen haben, diejenigen
Wähler hinter sich zu vereinen, die ein Problem mit Mélenchon haben.

Außerdem dürften die Linken wegen der Verunsicherung und Angst vor einem
historischen Rechtsruck in Frankreich und einer rechtsnationalen Regierung
deutlich mehr Zuspruch bekommen haben.

Macron steht besser da als gedacht

Für den unpopulären Macron ist das Ergebnis weniger vernichtend als
erwartet. Macron scheiterte zwar mit dem Versuch, die relative Mehrheit seiner
Mitte-Kräfte mit den Neuwahlen auszubauen. Immerhin könnte seine Fraktion aber
noch vor Le Pens Rechtsnationalen zweite Kraft werden und mit den Linken in
Regierungsverantwortung sein./rbo/DP/zb

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