27.06.2024 05:17:29 - dpa-AFX: 'Alles überstanden?' Drosten und Mascolo über Lehren aus der Pandemie

BERLIN (dpa-AFX) - Kaum ein Experte stand während der Corona-Pandemie so im
Fokus der Öffentlichkeit wie Christian Drosten. Sehr viele Menschen und auch die
Politik maßen den Einschätzungen des langjährigen Experten für Coronaviren große
Bedeutung zu. Doch auch Anfeindungen gab es. Im Buch "Alles überstanden?" blickt
der Virologe im Gespräch mit Georg Mascolo, dem früheren Chefredakteur des
Nachrichtenmagazins "Der Spiegel", zurück auf die Jahre der Pandemie.

Um das politische Krisenmanagement und die Rolle von Wissenschaft und Medien geht es dabei ebenso wie um die Herkunft von Sars-CoV-2 und die Frage: Wie
verhindern wir die nächste Pandemie? "Ein überfälliges Gespräch zu einer
Pandemie, die nicht die letzte gewesen sein wird", verspricht der Untertitel.
Was lief gut, was lief schlecht? Welche Entscheidungen waren übertrieben, welche
wurden zu spät getroffen? Fragen wie diesen haben sich Drosten und Mascolo in
dem Gespräch gewidmet.

Vieldiskutierte Schulschließungen

Beim Thema der Schulschließungen geht unter anderem darum, welche
Entscheidung zu welcher Zeit in welchem Kreis fiel. Um potenzielle negative
Folgen der Schließungen sei es schon anfangs gegangen, sagt Drosten - "aber
zugegeben weniger um verpasste Bildungschancen oder andere Folgen für Kinder".
Im Fokus habe vielmehr gestanden, dass viele junge Eltern gerade im wichtigen
Medizin- und Pflegebereich nicht zur Arbeit kommen können, wenn ihre Kinder
nicht in die Schule oder die Kita gehen können.

Mascolo erklärt, dass die Emotionalität bei der Frage der Schulschließungen
auch durch ein damit verbundenes größeres Thema entstand: die Verteilung der
Lasten während der Pandemie. "Der Satz "Vor der Krankheit sind alle gleich"
könnte kaum weiter von der Realität entfernt sein. Während der Pandemie traten
die sozialen Ungerechtigkeiten besonders deutlich zutage."

Prävention mindert Vorsicht

An anderer Stelle erläutert Drosten, warum das in Deutschland
vergleichsweise glimpflich verlaufende Frühjahr 2020 wohl für ein
Präventionsparadox sorgte, das die Welle ab dem Herbst umso heftiger ausfallen
ließ. "Man sieht die Krankheiten nicht, die man verhindert hat, und ist dann
blind für die Folgen, die ohne Präventionsmaßnahmen eingetreten wären", so der
Virologe. Auch nach der Pandemie schlage das Präventionsparadox wieder zu.
"Jetzt haben viele den Ernst der damaligen Lage vergessen und wollen
suggerieren, die Maßnahmen seien in Wirklichkeit alle übertrieben gewesen", so
Drosten.

Wo kam das Virus her?

Ausführlich gehen die Autoren auf die noch immer - und wohl auch in Zukunft
- unklare Herkunft von Sars-CoV-2 ein. "Für mich ist die Frage nach der Herkunft
des Coronavirus eines der großen naturwissenschaftlichen Rätsel unserer Zeit",
so Mascolo. "Hat die Natur oder der Mensch diese Büchse der Pandora in Wuhan
geöffnet?" Diese Frage sei politisch ungeheuer aufgeladen und er halte es für
unverantwortlich, dass China die Suche nach dem Ursprung des Virus bis heute
blockiere.

Auch der Weg Chinas in der Pandemie wird von Mascolo kritisiert.
Aufarbeitung werde es in China sicher nicht geben - doch auch in Deutschland
mangelt es Mascolo zufolge noch daran. In Schweden sei der finale Report schon
im Februar 2022 vorgelegt worden. Auch Großbritannien stelle sich "einer
rigorosen Aufarbeitung" mit einer dafür gegründeten Kommission.

"Würde mich wieder der Verantwortung stellen"

"Würden Sie sich eigentlich noch einmal so in die Öffentlichkeit begeben?",
wird Drosten von Mascolo auch gefragt. "Es waren Millionen Menschen in Gefahr,
sollte ich mich da raushalten, nur weil ich zwischendurch auch mal verprügelt
wurde?", antwortet Drosten. "Ich würde mich in einer vergleichbaren Situation,
wenn ich einer der wenigen Experten wäre, die etwas Wesentliches beizutragen
haben, wieder der Verantwortung stellen."

"Alles überstanden?" ist dank des Gesprächscharakters ein außerordentlich
gut und spannend zu lesendes Buch, das neben einer Chronologie zu den für
Deutschland bedeutsamen Ereignissen und Entscheidungen auch ein sehr
ausführliches Quellen-Register beinhaltet. An vielen Stellen rücken die beiden
Autoren schiefe Bilder und Mythen gerade, wobei stets auch erklärt wird, wie sie
entstanden. Von persönlichen Erfahrungen und Eindrücken geprägt bietet es einen
informativen Schritt der Aufarbeitung./kll/DP/zb

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