26.05.2024 14:41:52 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Weniger Lust auf Milch - von Tradition zur ethischen Debatte

BERLIN (dpa-AFX) - Milch macht müde Männer munter? Der wohlklingende
Werbeslogan aus den westdeutschen Nachkriegsjahren klingt heute wie aus der Zeit
gefallen. Denn neben Flexitariern, die bewusst weniger Fleisch essen, gibt es
immer mehr Bundesbürger, die aus Überzeugung weniger Kuhmilch trinken.

Fachleute sehen in diesem Verzicht mehr als eine kurzlebige Mode. Für die
Gesellschaft für Konsumforschung sind die "Milchreduzierer" keine Randgruppe
mehr. Denn seit es bei Lebensmitteln um mehr geht als Nährstoffe, hat Kuhmilch
mitunter ein Imageproblem. Doch ist sie wirklich von gestern - und was können
Hintergründe für die Entscheidung gegen ein Grundnahrungsmittel sein? Nachfragen
zum Tag der Milch am 1. Juni.

Von den Zahlen her ist Trinkmilch in Deutschland auf einem stetigen
Abwärtstrend. Der Pro-Kopf-Verbrauch lag 2023 nach Daten der Bundesanstalt für
Landwirtschaft und Ernährung bei rund 46 Kilo. Mitte der 1990-er Jahre waren es
der Behörde zufolge noch um die 60 Kilo. Das Statistische Bundesamt führt
Deutschland aber noch als größten Produzenten von Kuh­milch in der EU, und die
Milchwirtschaft gehört hierzulande zu den umsatzstarken Sektoren der
Landwirtschaft. Was ist da los?

Gesellschaftliche Debatten und politischer Druck

"Wir steuern in Deutschland ganz stark in die Richtung nicht tierische
Grundnahrungsmittel", sagt Jana Rückert-John, Professorin für die Soziologie des
Essens an der Hochschule Fulda. "Fleisch und alle anderen tierischen Produkte
sind in gesellschaftlichen Debatten aus unterschiedlichen Richtungen massiv
unter Beschuss geraten." Es gehe um Tierwohl, den CO-2-Fußabdruck,
Nachhaltigkeit und Klimaschutz. "Auf dem Thema ist auch politisch Druck drauf."
Der Rückgang von Fleisch- und Milchkonsum hängt für die Forscherin eng zusammen.
Wobei für sie ein Unterschied bleibt. "Für Fleisch werden Tiere getötet."

Themen wie konventionelle Tierhaltung und Hochleistungs-Milchkühe, die ihre
Kälbchen nach der Geburt nur wenige Stunden sehen und selbst kaum älter als fünf
Jahre werden, beschäftigen nicht nur Veganer. Nach dem jüngsten
Ernährungsreport, einer repräsentativen Umfrage im Auftrag des
Bundeslandwirtschaftsministeriums, achten 80 Prozent der Käuferinnen und Käufer
darauf, wie ein Nutztier lebt. Westdeutsche legen bei der Wahl ihrer
Lebensmittel dabei häufiger ein Augenmerk auf Tierwohl als Ostdeutsche - und
Frauen häufiger als Männer. Gut die Hälfte der Befragten hat bereits
vegetarische oder vegane Alternativen gekauft - am häufigsten pflanzlichen
Ersatz für Trinkmilch und Milchprodukte.

Mit Ernährung sind Wertvorstellungen verbunden

Tobt ein unterschwelliger Kulturkampf um die Milch? So weit würde
Rückert-John nicht gehen. "Die Debatte ist auch ein Phänomen einer
Wohlstandsgesellschaft", urteilt sie. Denn in Deutschland gebe es für Milch
ausreichend Ersatzprodukte. "Ernährung wird häufiger problematisiert, weil sie
nicht mehr allein eine gesundheitliche Dimension hat", ergänzt sie. Es gehe auch
um Wertvorstellungen wie Umwelt oder Klima. "Essen und Trinken sind
Grundbedürfnisse - und gleichzeitig so viel mehr", heißt es in der jüngsten
Ernährungsstrategie der Bundesregierung. Es gehe um Genuss, Verbundenheit,
Tradition, Kultur und Miteinander. Ernährung sei darüber hinaus oft auch
Ausdruck "eines Lebensgefühls oder Mittel zur Selbstverwirklichung".

Von der Zurückhaltung der Käufer ist vor allem reine Milch betroffen. Weit
weniger rasant ist die Abwärtsentwicklung bei Käse aus Kuhmilch. Gibt es da eine
Logik? "Milchprodukte entfernen sich vom Urprodukt. Das ist, als ob ich ein
ganzes Tier im Backofen sehe oder Fischstäbchen und Chicken-Nuggets", sagt
Forscherin Rückert-John. Mit der Verarbeitung von Lebensmitteln würden auch
Probleme unsichtbarer.

Von Milch-Verbannung ist die Bundesrepublik weit entfernt. Nach Umfragen für die Gesellschaft für Konsumforschung kaufen fast 93 Prozent der Haushalte weiter
H- oder Frischmilch, nur eben weniger.

Nur noch zwei Portionen Milch pro Tag

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) hat in diesem Jahr ihre
Empfehlungen für Milch und Milchprodukte nach unten korrigiert - von drei auf
zwei Portionen pro Tag. "Das entspricht einem Glas Milch und einem Joghurt pro
Tag - oder einem Joghurt und einer Scheibe Käse", erläutert DGE-Sprecherin Antje
Gahl. Warum die Portion weniger? "In den neuen Empfehlungen haben wir nicht
allein die Gesundheit berücksichtigt, sondern auch Umweltauswirkungen. Darunter
sind Treibhausgaseffekte und Landnutzung wie Weideflächen", ergänzt sie. Auch
Verzehrgewohnheiten seien in die Modell-Berechnungen miteingeflossen.

Für Gahl ist der geringere Milchkonsum kein Drama. "Ernährungsgewohnheiten
ändern sich. Wir haben in den letzten Jahren einen Switch in Richtung mehr
vegetarische oder vegane Ernährung", sagt sie. Jede Generation ernähre sich
anders. "In der Nachkriegszeit ging es vor allem ums Sattwerden, später kam die
Fitness- und Schlankheitswelle." Heute gehe es eben nicht mehr nur um
Bedarfsdeckung. Skepsis gegenüber Milch sei kein neues Phänomen. Es habe immer
Diskussionen gegeben, wie gesund sie sei und wie sie vertragen werde - Stichwort
Laktoseintoleranz, berichtet die Ernährungsexpertin.

Wie gesund ist Milch? An Nährstoffen bietet sie viel hochwertiges Eiweiß,
Kalzium, Vitamin B2 und B12, Vitamin A, Eisen, Magnesium, Zink und Jod. Da
könnten Pflanzendrinks pur nicht mithalten, sagt die DGE-Expertin. "Allein schon
der Kalzium-Gehalt reicht nicht. Darum werden alle diese Drinks mit Nährstoffen
angereichert." Ökotrophologen sprechen deshalb lieber von Ersatz für Kuhmilch
als von Alternativen. Von Dogmatik aber ist wenig zu spüren. "Milch und
Milchprodukte sind für Erwachsene in den richtigen Mengen gesund - aber sie
nicht zwingend erforderlich", sagt Gahl.

Mehr Vorsicht bei Kindern und Jugendlichen

Bei Kindern und auch Jugendlichen sei das wegen des Knochenwachstums etwas
anderes. "Eine vegane Ernährung im Kindesalter empfehlen wir nicht, weil es
schwierig ist, den Nährstoffbedarf abzudecken", erläutert sie. "Natürlich geht
auch das mit Ersatzprodukten, aber dafür müssen Eltern sich wirklich gut mit
Lebensmitteln auskennen." Ohne Milch müssten Kinder viele Vollkornprodukte,
Hülsenfrüchte, Nüsse und Samen essen. "Und sie müssen das auch mögen."

Soziologin Rückert-John erlebt an ihrer Hochschule, wie sich ihre
Studierenden auch im Alltag mit Milch auseinandersetzen. Der Trend gehe zum
Verzicht - allerdings werde die Sache komplizierter, je genauer sich junge Leute
damit beschäftigten, berichtet sie. Denn die Öko-Bilanz der Soja- und
Mandelvariante muss nicht besser sein als die von Kuhmilch. Für Sojafelder
könnte in Brasilien Regenwald abgeholzt, für Mandeln zu viel Wasser verbraucht
worden sein.

"Es gibt eine Überlastung und Überforderung von Verbrauchern", beobachtet
die Professorin. "Die vielen Debatten, was wir überhaupt noch essen sollten und
wo Lebensmittel herkommen, das ist unglaublich komplex. Man kann ja nicht alles
abwägen und durchdenken." Für das gute Gewissen bliebe dann für einige nur der
Einkauf im Bio-Supermarkt. Doch das ist neben Überzeugung am Ende auch eine
Frage des Portemonnaies./vl/DP/he

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