23.05.2024 06:15:17 - dpa-AFX: POLITIK: Kurs Downing Street: Labour-Partei profitiert vom konservativen Chaos

LONDON (dpa-AFX) - Rishi Sunak stand im Londoner Regen wie ein begossener
Pudel - und wohl selten hat ein Bild die Lage eines Politikers so deutlich
gemacht wie beim britischen Premierminister. Mit markigen Worten kündigte der
konservative Regierungschef die Parlamentswahl für den 4. Juli an. Doch wenn er
es nicht schafft, binnen Wochen die öffentliche Meinung deutlich herumzureißen,
dürfte sein nächster Auftritt vor der berühmten schwarzen Tür in der Downing
Street sein letzter als Premier werden - um seine Niederlage einzuräumen. Rund
20 Prozentpunkte liegen Sunaks Konservative in Umfragen hinter der Labour-Partei
zurück.

Wenn nicht noch ein größeres Wunder geschieht, zieht Oppositionsführer Keir
Starmer am 5. Juli in die Downing Street ein, als erster Labour-Premier seit 14
Jahren - und 100 Jahre nach dem ersten sozialdemokratischen Regierungschef der
britischen Geschichte.

Starmers Pluspunkt: die Konservative Partei

Der Vorsprung von Labour ist vor allem dem gewaltigen Ärger über die
Konservativen zu verdanken. Wofür die Partei steht, wissen viele Menschen bisher
nicht. Erst vor kurzem stellte Starmer ein Sofortprogramm aus sechs Punkten vor.
Er will für wirtschaftliche Stabilität sorgen, Wartezeiten beim staatlichen
Gesundheitsdienst NHS verkürzen, eine neue Kommandostruktur für den Grenzschutz
schaffen, ein nationales Energieunternehmen gründen, gegen unsoziales Verhalten
vorgehen und 6500 neue Lehrkräfte einstellen.

Einen Wandel verspricht Starmer den Briten. Viele Wählerinnen und Wähler
setzen nach Ansicht von Kommentatoren vor allem darauf, dass mit Labour ein
neuer Ton in die Regierung einzieht und das Chaos der vergangenen Jahre mit drei
Premierministern, häufigen Skandalen und ständigen Ministerwechseln endlich ein
Ende hat. "Die Strategie von Sir Keir Starmer besteht darin, der Öffentlichkeit
zu versichern, dass das größte Risiko dieses Mal darin besteht, eine
diskreditierte Regierung im Amt zu halten", sagt der Politologe Mark Garnett von
der Universität Lancaster der Deutschen Presse-Agentur. Starmer gilt durchaus
als langweilig. Aber genau danach sehnten sich viele Briten, ist oft zu hören.

Wer ist die Labour-Partei?

Die Sozialdemokraten standen oft im Schatten der Konservativen. Starmer wäre erst der siebte Labour-Premier der Geschichte. Entstanden aus der
Arbeiterbewegung, vereinte die Labour Party bei ihrer Gründung im Jahr 1900 die
linken Bewegungen. Von Beginn an ist sie eng mit den Gewerkschaften verbunden,
die bis heute über viel Einfluss verfügen.

Ein Vergleich mit der deutschen Politik fällt nicht leicht. Zwar unterhält
Labour enge Beziehungen zur SPD. Auch wegen des britischen Wahlsystems, bei dem
in jedem Wahlkreis nur die Kandidatin oder der Kandidat mit den meisten Stimmen
gewinnt, ungeachtet des Vorsprungs, decken beide große Volksparteien jeweils ein
breites Spektrum ab. So finden sich bei Labour auch Positionen, die eher der
Linken, den Grünen und einige auch der FDP zuzurechnen wären.

Arsenal-Fan und ehemaliger Strafverfolgungschef

Der ehemalige Anwalt Starmer ist seit April 2020 der "Leader of His
Majesty's Most Loyal Opposition", wie der Chef der größten Oppositionspartei im
britischen Unterhaus traditionell genannt wird. Übernommen hat der 61-Jährige
die Sozialdemokraten von Jeremy Corbyn, der 2019 die Wahl haushoch gegen den
damaligen Premier Boris Johnson verloren hatte. Von Corbyns sehr linken
Positionen hat Starmer die Partei wieder in die politische Mitte geführt.

Zunächst lief es aber nicht gut. Nach einer Niederlage bei einer Nachwahl
zum britischen Parlament in der nordostenglischen Labour-Hochburg Hartlepool im
Mai 2021 wollte Starmer hinschmeißen, wie er jüngst zugab. Aber viele Skandale
unter den konservativen Premiers Johnson und Liz Truss brachten ihm neuen
Zulauf. Zuletzt übernahm Starmer auch gemäßigt-konservative Positionen - er
nutzt dabei den Raum, den ihm der Rechtskurs der Tories lässt.

Der frühere Chef der Strafverfolgungsbehörde CPS gilt zwar wie auch sein
Konkurrent Sunak nicht als mitreißender Redner. Aber viele Menschen schätzen an
dem Vater zweier Kinder im Teenager-Alter seine Bodenständigkeit, seine Ruhe und
Einfühlsamkeit. Privat ist Sir Keir, wie er sich seit einigen Jahren nennen
darf, ein großer Fan des Londoner Fußball-Erstligisten Arsenal und kickt auch so
oft wie möglich selbst mit Kumpels.

Unter Vorgänger Corbyn gab es Vorwürfe des Antisemitismus

Immer wieder betont Starmer, dass er Labour runderneuert habe. Waren unter
Corbyn antisemitische Vorwürfe gegen die Partei aufgekommen, die traditionell
stark mit der Palästinenser-Bewegung sympathisiert, fährt Starmer einen klaren
Kurs gegen antiisraelische Kommentare. Deutlich prangerte er den Terror der
islamistischen Hamas gegen Israel an.

Allerdings gibt es immer noch Abgeordnete oder Kandidaten, die sich abfällig über Israel äußern. Anfang Februar stellte Labour in einem solchen Fall die
Unterstützung für ihren eigentlichen Bewerber bei der Parlamentsnachwahl in
Rochdale bei Manchester ein, obwohl kein Ersatzkandidat mehr benannt werden
durfte. Kurz danach waren in einer Umfrage rund 40 Prozent der Ansicht, dass die
Partei immer noch mit antijüdischen Vorurteilen zu kämpfen habe.

Labour und die EU

In Corbyns Schattenkabinett fungierte Starmer als Brexit-Sprecher seiner
Partei. Im Gegensatz zum damaligen Parteichef setzte er sich für ein zweites
Referendum ein, um den EU-Austritt zurückzudrehen. Mittlerweile aber hat er
klargemacht, dass er keinen Rückweg in die EU sieht. Zwar will er sich der
Gemeinschaft wieder annähern, und auch aus der EU sind regelmäßig solche
Hoffnungen zu hören. Einen Wiedereintritt zumindest in die EU-Zollunion oder den
Binnenmarkt aber lehnt Starmer bisher ab. Kommentatoren verweisen darauf, der
Labour-Chef habe Angst, wichtige Wählerstimmen im traditionell EU-kritischen
Norden Englands zu verlieren./bvi/DP/stk

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