13.05.2024 06:30:25 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Demonstranten in Georgien kämpfen für EU-Zukunft

TIFLIS (dpa-AFX) - In der kleinen Republik Georgien im Südkaukasus spitzt
sich der Machtkampf zwischen der Regierung und einer starken Protestbewegung zu.
Auslöser der seit Wochen andauernden Demonstrationen ist ein Gesetz, von dem
Kritiker befürchten, dass es wie in Russland zur Drangsalierung der
Zivilgesellschaft genutzt werden soll. Doch im Kern geht es um die demokratische
Entwicklung der ehemaligen Sowjetrepublik an der Südgrenze Russlands; es geht um
den Kurs des EU-Beitrittskandidaten Richtung EU und Nato.

Am Wochenende schwollen die Demonstrationen weiter an. Zehntausende Menschen versammelten sich im Zentrum der Hauptstadt Tiflis. An diesem Montag beginnt im
Justizausschuss des Parlaments die dritte Lesung des Gesetzes. Am Dienstag soll
im Plenum abgestimmt werden. Studenten der Universität Tiflis haben neue
Proteste angekündigt: "Wir werden Widerstand leisten gegen den Versuch, per
Gesetz eine Putin-Diktatur zu legalisieren." Fragen und Antworten zur Lage:

Worum geht es in dem umstrittenen Gesetz?

Nach Darstellung der seit 2012 regierenden Partei Georgischer Traum hat das
Ausland über die Förderung von Nichtregierungsorganisationen zu viel Einfluss in
Georgien. Es gebe einen "Mangel an Transparenz", sagte die Abgeordnete Maka
Botschorischwili aus dem Regierungslager. Das neue Gesetz verschärft die
Rechenschaftspflicht für jene NGOs, die mehr als 20 Prozent Geld aus dem Ausland
erhalten.

Kaum ein Land hat so viel Hilfe bekommen für Projekte in
Demokratieförderung, Medien, Soziales, Umwelt und Wirtschaft, wie Georgien. Von
mehr als 20 000 registrierten NGOs seien 4500 bis 5000 tatsächlich aktiv,
schätzt Stephan Malerius, Vertreter der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in
Tiflis. "Ich glaube, dass die Investitionen der EU, der USA und anderer Geber in
die Zivilgesellschaft sehr sinnvoll gewesen sind", sagte der Leiter des
Regionalprogramms Politischer Dialog Südkaukasus der Deutschen Presse-Agentur.

Die Kritiker des Gesetzes befürchten, dass die Organisationen von
ausländischem Geld abgeschnitten und mundtot gemacht werden sollen. In Russland
werden kritische NGOs als "ausländische Agenten" gebrandmarkt; deshalb nennen
die Demonstranten in Georgien den Entwurf nur das "russische Gesetz".

Was wollen Georgischer Traum und der Milliardär Iwanischwili?

Paradox ist, dass die Regierung von Georgischer Traum die erfolgreichen
Gespräche über den EU-Kandidatenstatus geführt hat. Sie hält nach Worten am
EU-Kurs fest - verfolgt aber zugleich gute Kontakte nach Moskau.

Starker Mann der Partei ist ihr Gründer Bidsina Iwanischwili (68), der mit
Geschäften in Russland zum Milliardär geworden ist und zeitweise auch
Ministerpräsident war. Ende April hielt er in Tiflis eine Rede, die eine
autoritäre Wende ankündigte - irgendwo zwischen Viktor Orban in Ungarn und
Wladimir Putin in Russland. Er drohte der Opposition strafrechtliche Verfolgung
an nach der kommenden Parlamentswahl im Oktober. Georgien müsse sich vor
verderblichem westlichem Einfluss schützen. Und er sprach von einer "globalen
Kriegspartei", die Georgien wie die Ukraine zur Konfrontation mit Russland
aufhetze.

Hat Russland tatsächlich seine Hand im Spiel?

Im Gegensatz zur internationalen Kritik hat Russland das Gesetz verteidigt.
"Kein souveräner Staat möchte die Einmischung anderer Länder in seine
Innenpolitik", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Es sei absurd, das Gesetz als
"russisches Projekt" zu sehen.

Beobachter wie Malerius sehen aber über das NGO-Gesetz hinaus Ähnlichkeiten
zur Entwicklung in Russland. Ein neues Gesetz erleichtert den Zufluss von
Offshore-Geld nach Georgien, was Iwanischwili wie auch Russen helfen könnte,
Sanktionen zu umgehen. Solche Indizien legten nahe, "dass das Drehbuch zu diesem
Geschehen in Russland geschrieben wurde", sagt Malerius.

Wer trägt die Proteste?

Vor allem junge Menschen gehen auf die Straße. Viele haben visafrei die EU
besucht und sehen die europäische Perspektive ihres Landes in Gefahr. Klare
Führungsfiguren gibt es nicht. Doch Staatspräsidentin Salome Surabischwili steht
aufseiten des Protests. Dazu kommen Gewerkschaftler, prominente Sportler und
Künstler, einige Geistliche der orthodoxen Kirche und einzelne Vertreter von
Georgischer Traum. In den vergangenen Tagen hat die Staatsmacht Regierungsgegner
öffentlich angeprangert und Schläger auf sie gehetzt. Dies hat die
Demonstrationen angeheizt.

Welche Folgen kann der Konflikt haben?

Die EU hat das Gesetz ein Hindernis für einen Beitritt Georgiens genannt.
"Georgien ist an einem Scheideweg. Es sollte seinen Kurs nach Europa
fortsetzen", sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen jüngst.
Vielleicht wird nicht sofort der Kandidatenstatus aberkannt. Aber es könnte
Sanktionen gegen Iwanischwili und seine Umgebung geben. In der US-Führung zeigte
sich der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan tief besorgt über den
"demokratischen Rückschritt".

Iwanischwili und Ministerpräsident Irakli Kobachidse geben sich überzeugt,
dass sie die Protestwelle aussitzen können. Doch in der Dynamik der Proteste
scheint nicht ausgeschlossen, dass die Regierung stürzt. Georgischer Traum
könnte auch im Oktober die Parlamentswahl verlieren, bei der sie angesichts der
zersplitterten Opposition eigentlich auf einen ungefährdeten Sieg zusteuerte.

Das Gesetz zum zweiten Mal nach 2023 zurückzuziehen, wäre eine bittere
Niederlage für Georgischer Traum, schrieb der Experte Alexander Atassunzew für
Carnegie Politika. "Aber es nicht zurückzuziehen bedeutet, die europäische
Zukunft des Landes zu riskieren und zugleich die eigene Macht."/fko/DP/zb

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