05.07.2024 12:24:29 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Kommen Le Pens Rechtsnationale an die Macht?

PARIS (dpa-AFX) - Viele in Frankreich reiben sich erstaunt die Augen und
auch Deutschland und Europa blicken mit Sorge Richtung Paris. Schafft es das
Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen bei der Parlamentswahl an diesem
Sonntag, eine absolute Mehrheit zu erlangen und erstmals seit dem Zweiten
Weltkrieg eine rechtsnationale Regierung in Frankreich zu installieren? Oder
gelingt die Blockade der extremen Rechten durch den Schulterschluss der
Mitte-Links-Kräfte, die aber mehrheitlich schon klargemacht haben, dass sie im
Anschluss nicht zusammen regieren möchten?

Als Kontrahenten stehen sich der Jungstar der Rechtsnationalen, Jordan
Bardella (28), ein politischer Ziehsohn von Le Pen, sowie der gleichermaßen
eloquent auftretende Premierminister Gabriel Attal (35) gegenüber. Präsident
Emmanuel Macron hatte Attal erst Anfang des Jahres zum Premier ernannt in der
Hoffnung, mit dem jungen und dynamischen Attal dem Vorrücken von Le Pen und
Bardella einen Riegel vorzuschieben.

Sitzverteilung schwer zu prognostizieren

In der ersten Wahlrunde lagen nun aber wie schon bei der Europawahl die
Rechtsnationalen vorne, gefolgt vom neuen Linksbündnis sowie Macrons Mitte-Lager
auf Rang drei. 76 der 577 Abgeordnetenplätze wurden bereits vergeben, die
meisten für das RN (39) oder das Linksbündnis (32). "Anders als bei einer
deutschen Bundestagswahl ist die Sitzverteilung nach der zweiten Runde schwierig
zu prognostizieren", sagt die Politikwissenschaftlerin Isabelle Guinaudeau von
der Pariser Hochschule Sciences Po.

Da die Abgeordnetenplätze nach dem Mehrheitswahlrecht vergeben werden, haben in über 200 Wahlkreisen die jeweils drittplatzierten Kandidaten der übrigen
Parteien sich zurückgezogen, damit die Chance steigt, dass der verbliebene
Kandidat einer bürgerlichen Partei den Bewerber der Rechtsnationalen schlägt. Ob
dieser in Frankreich oft praktizierte Schutzwall gegen die extreme Rechte hält,
ist dieses Mal die große Frage.

Bei absoluter Mehrheit des RN steht Macron unter Zugzwang

Ob die Wähler und Wählerinnen der eliminierten oder zurückgezogenen Parteien das RN oder ihre Gegenpartei in den Stichwahlen unterstützten, sei "sehr schwer
zu antizipieren und das Ergebnis wird in vielen Fällen knapp sein", sagt
Guinaudeau.

Und welche Regierungsverhältnisse stehen Frankreich bevor? Erwartet wird
unabhängig vom Wahlausgang, dass die bestehende Regierung von Premierminister
Gabriel Attal noch mindestens einige Tage geschäftsführend im Amt ist, bis über
die Bildung einer künftigen Regierung Klarheit herrscht.

Sollte das RN eine absolute Mehrheit erringen, stände Macron unter dem
politischen Zwang, einen Premierminister aus den Reihen der Rechtsnationalen zu
ernennen. Damit gäbe es in Frankreich erstmals seit 1997 wieder eine sogenannte
Kohabitation, das bedeutet, dass Präsident und Premierminister unterschiedliche
politische Richtungen vertreten.

Verhelfen Konservative Le Pen zu Mehrheit?

Bei einer starken relativen Mehrheit für das RN wird damit gerechnet, dass
dieses versucht, weitere Abgeordnete der bürgerlich-konservativen Républicains
(LR) auf seine Seite zu ziehen, um Entscheidungsmacht im Parlament zu erlangen.

Die ehemalige Volkspartei hatte sich im Anlauf zur Wahl gespalten. Ihr
Vorsitzender Éric Ciotti hatte unabgestimmt mit seiner Partei eine Kooperation
mit dem RN vereinbart, nur eine kleinere Zahl von Abgeordneten folgte ihm aber.
Die Frage ist nun, wie die übrigen Abgeordneten sich verhalten, die in der
ersten Wahlrunde rund zehn Prozent an Wählerstimmen auf sich vereinten.

Offen ist im Moment, wie es in Frankreich weitergeht, wenn der
Schulterschluss gegen das RN funktioniert. Da die übrigen Lager einschließlich
der wiedererstarkten Sozialisten nicht in einer Art nationaler Koalition
miteinander reagieren wollen, könnte die aktuelle Regierung als
Übergangsregierung im Amt bleiben oder eine Expertenregierung eingesetzt werden.
Frankreich droht damit politischer Stillstand. Neue Vorhaben könnte eine
Regierung ohne Mehrheit nicht auf den Weg bringen.

Le Pen profitierte von Enttäuschung über Macron

Die Endrunde der Frankreich-Wahl ist auf jeden Fall eine Machtprobe im
Kräftemessen zwischen Präsident Macron und RN-Anführerin Le Pen, die sich
zweimal schon als Präsidentschaftskandidaten gegenüberstanden. Macron versprach
2017 beim Amtsantritt, den Aufstieg der Rechtsnationalen zu stoppen und die
Partei, die damals noch ihren ursprünglichen Namen Front National trug,
kleinzuhalten.

Macron stellte mit seinem neuen Mitte-Bündnis 2017 den Aufbruch in eine neue Welt mit mehr Wachstum und Gerechtigkeit in Aussicht. Während der ambitionierte
Jungpräsident mit seinen Visionen schnell einen Platz auf internationaler Bühne
eroberte, fühlten sich viele Menschen in Frankreich gerade abseits der
Metropolen mit ihren Alltagssorgen nicht wahr- und ernstgenommen.

An diesem Punkt setzte Le Pen an und präsentierte sich als Fürsprecherin der Abgehängten, die für die vom RN geschürte Furcht vor Migration und dem Verlust
nationaler Identität empfänglich sind. Das Umbenennen der bis dahin
rechtsextremen Partei verband sie mit einer Entteufelung und dem Verzicht auf
allzu radikalen Positionen. Offensichtlich ging ihr Plan auf, ihre Partei so bis
in die bürgerliche Mitte hinein wählbar zu machen.

Europäischer Trend Richtung rechts

Das Rassemblement National ist wie auch rechte Parteien in anderen
europäischen Ländern wie Italien, den Niederlanden oder Deutschland auf dem Weg,
zu einer neuen Volkspartei zu werden - und dies zulasten der früher starken
bürgerlichen Parteien. In Frankreich kommt dazu, dass Macron mit seinem 2017
geschaffenen Mitte-Lager Sozialisten und Konservative schwächte, indem er
Spitzenvertreter beider Lager in seine breite Strömung integrierte. Das
Macron-Bündnis steht nun nach dem gescheiterten Poker des Präsidenten um mehr
Macht mit der vorgezogenen Parlamentswahl selber vor einem Scherbenhaufen und
wird im Parlament allen Prognosen nach nur noch in stark reduzierter Zahl
vertreten sein./evs/DP/jha

--- Von Michael Evers, dpa ---

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