05.07.2024 10:34:54 - dpa-AFX: ROUNDUP 2/Triumph für Labour: Großbritannien erlebt Regierungswechsel

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LONDON (dpa-AFX) - Großbritannien erlebt einen Regierungswechsel. Die
Oppositionspartei Labour und ihr Parteichef Keir Starmer haben die
Parlamentswahl deutlich gewonnen. Der 61-Jährige wird damit neuer
Premierminister und soll heute von König Charles III. mit der Regierungsbildung
beauftragt werden. Landesweit eroberten seine Sozialdemokraten zahlreiche
Wahlkreise von den Konservativen des bisherigen Regierungschefs Rishi Sunak.

Den Tories droht nun ein Richtungsstreit. Sie kommen auf ein historisch
schlechtes Ergebnis. Für den 44-jährigen Sunak ist es eine schwere Niederlage.
"Die Labour-Partei hat diese Parlamentswahl gewonnen, und ich habe Sir Keir
Starmer angerufen, um ihm zu seinem Sieg zu gratulieren", sagte Sunak sichtlich
niedergeschlagen. Er deutete seinen Rückzug von der Parteispitze an.

Briten wählen viele Regierungsmitglieder ab

Labour kommt nach Auszählung fast aller Wahlkreise auf mindestens 410 von
650 Sitzen im Unterhaus (House of Commons). Bei der Wahl 2019 hatte die Partei
bloß 202 Mandate geholt. Die Konservativen brechen nach bisherigem Stand von
bisher 365 auf etwa 120 Sitze ein. Dabei wurden so viele Kabinettsmitglieder
abgewählt wie nie, auch die frühere Regierungschefin Liz Truss verliert ihr
Mandat.

Etliche Stimmen gehen an die rechtspopulistische Partei Reform UK. Deren
Vorsitzender Nigel Farage, der einst den Brexit maßgeblich vorangetrieben hatte,
schafft es im achten Anlauf erstmals ins Unterhaus. Seine Partei dürfte die
Tories weiter unter Druck setzen.

Starmer verspricht Veränderungen

Die Konservativen regierten seit 14 Jahren im Vereinigten Königreich.
Starmer wird nun der erste Labour-Premierminister seit Gordon Brown und Tony
Blair. "Die Menschen haben gesprochen, sie sind bereit für den Wandel. Sie haben
abgestimmt und es ist an der Zeit, dass wir liefern", sagte er. Starmer, der
seine bodenständige Herkunft betont, war früher Chef der Anklagebehörde Crown
Prosecution Service, und hat zwei Kinder im Teenageralter.

Starmer siegte in seinem Londoner Wahlkreis Holborn and St Pancras deutlich. Allerdings verlor er im Vergleich zu 2019 rund 17 Prozentpunkte. Das lag vor
allem an der hohen Zustimmung für einen unabhängigen Kandidaten, der sich
deutlich gegen das israelische Vorgehen im Gazastreifen aussprach.
Labour-Spitzenpolitiker Jonathan Ashworth verlor sogar überraschend seinen
Wahlkreis an einen propalästinensischen Bewerber.

Wie ein Wahlforscher den Vorsprung erklärt

Meinungsforscher sahen den deutlichen Sieg der Sozialdemokraten lange
kommen. Verantwortlich für den klaren Ausgang der Wahl ist nach Ansicht des
renommierten Meinungsforschers John Curtice von der Universität Strathclyde in
Glasgow nicht in erster Linie Begeisterung für Labour, sondern Verdruss über die
bisherige Regierungspartei.

Sunak war bereits der dritte Regierungschef seiner Partei in der vergangenen Legislaturperiode, die von wirtschaftlicher Stagnation und stark steigenden
Lebenshaltungskosten geprägt war. Übernommen hatte er im Oktober 2022 von Truss,
die nach nur 49 Tagen im Amt zurückgetreten war. Im Wahlkampf kämpfte Sunaks
Partei mit Pannen und einem Skandal um illegale Wetten auf den mutmaßlichen
Wahltermin.

"Wir haben eine grundlegende Regel der Politik vergessen"

Für Sunaks Konservative gleicht die Wahl einem Alptraum. "Erdrutsch" und
"Massaker" lauten einige Schlagzeilen der britischen Presse nach Bekanntwerden
des Desasters. Mehrere Kabinettsmitglieder verloren ihre Sitze, darunter
Verteidigungsminister Grant Shapps, Bildungsministerin Gillian Keegan sowie
Penny Mordaunt - die Ministerin für Parlamentsfragen galt bisher als Favoritin
auf Sunaks Nachfolge.

"Für mich ist klar, dass Labour die Wahl heute Abend nicht gewonnen hat,
sondern dass die Tories sie verloren haben", sagte Shapps am Donnerstagabend.
"Wir haben eine grundlegende Regel der Politik vergessen. Die Leute wählen keine
gespaltenen Parteien."

Rechtspopulist Farage macht Kampfansage

Mandate verloren haben die Konservativen wohl nicht nur an Labour. Auch die
Liberaldemokraten scheinen erhebliche Zugewinne auf Kosten der Tories verbuchen
zu können. Für die schottische Unabhängigkeitspartei SNP dagegen sieht es nach
einer verheerenden Niederlage aus.

Als Sieger fühlen sich hingegen die Rechtspopulisten um Farage, auch wenn
sie nur wenige Mandate erhalten. Denn im britischen Mehrheitswahlrecht gewinnt
die Kandidatin oder der Kandidat mit den meisten Stimmen den Wahlkreis - alle
anderen Stimmen haben keine Auswirkung. Farage schrieb auf der Plattform X,
vergangene Nacht markiere "das Ende der Konservativen Partei, wie wir sie
kennen".

Wofür steht Keir Starmer?

Starmer führte Labour wieder in die politische Mitte, nachdem die Partei
unter seinem Vorgänger Jeremy Corbyn - dem nun als Unabhängigen die Wiederwahl
gelang - weit nach links gerückt war. Zudem ging er entschieden gegen
antisemitische Tendenzen in den eigenen Reihen vor.

Was politische Inhalte angeht, blieb der bisherige Oppositionschef in vielen Bereichen eher vage. Manche Kommentatoren vergleichen seine behutsame Art
deshalb mit dem Tragen einer Porzellanvase aus der chinesischen
Ming-Dynastie./bvi/DP/mis

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