05.07.2024 06:30:18 - dpa-AFX: HINTERGRUND 2: Wahltriumph für Labour läutet neue Ära in Großbritannien ein

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LONDON (dpa-AFX) - Wer eine kaum lösbare Aufgabe vor sich hat, der muss im
Englischen einen Berg besteigen. "We have a mountain to climb": Wir müssen einen
Berg erklimmen, hat auch Keir Starmer immer wieder betont, seitdem er die
britische Labour-Partei führt. Nun haben seine Sozialdemokraten nicht nur
irgendeinen Berggipfel erreicht. "Er hat gerade den Everest bezwungen und ist
ins All gestartet", so beschreibt die bekannte Reporterin Beth Rigby vom Sender
Sky News das Ergebnis der britischen Parlamentswahl.

Die Schlüssel zur berühmten schwarzen Tür mit der Nummer 10 in der Downing
Street gehen nach 14 Jahren konservativer Regierung wieder an Labour über. Gegen
Freitagmittag dürfte König Charles III. als Staatsoberhaupt den Parteichef
Starmer offiziell mit der Regierungsbildung beauftragen. Der 61-Jährige wird
durchregieren können. Der scheidende Premier Rishi Sunak gratulierte ihm am
frühen Morgen.

410 der 650 Abgeordneten im Parlament dürften die Sozialdemokraten laut
BBC-Prognose stellen - gut doppelt so viele wie bisher. "Labour wird über
genügend Sitze verfügen, um selbst die stärkste Oppositionsfraktion zu bilden",
scherzt der Journalist Iain Dale.

Die Boulevardzeitung "The Sun" titelt: "Großbritannien sieht Rot." Von einem "Wahlmeteor", der im Land eingeschlagen sei, spricht der frühere
Labour-Spitzenpolitiker Peter Mandelson in der BBC.

Sunaks Zeit als Parteichef vor dem Ende

Die politischen Verhältnisse im Vereinigten Königreich stehen kopf. Die
Konservative Partei des bisherigen Premierministers Sunak ist vernichtend
geschlagen: Auf 144 Mitglieder schrumpft die Fraktion laut Prognose - kaum mehr
als ein Drittel der bisherigen Mandate. Sunak selbst bleibt zwar im Parlament.
Dennoch dürfte ihn das Ergebnis der "schwierigen Nacht", wie er es nannte, das
Amt des Vorsitzenden kosten. In der Partei werden mehrere Anwärter auf seinen
Chefposten gehandelt.

Wie groß letztlich die Labour-Mehrheit sein wird, ob 20 oder 200 Mandate,
spielt im parlamentarischen System Großbritanniens keine Rolle. Aber natürlich
macht ein komfortabler Puffer das Regieren für Starmer einfacher. Je geringer
der Vorsprung, desto größer das Risiko, von Quertreibern in den eigenen Reihen
bei strittigen Themen erpresst zu werden. Für Starmer scheint der Weg nun frei,
seinen selbsterklärten Anspruch umzusetzen und Großbritannien durch ein
"Jahrzehnt der nationalen Erneuerung" zu führen.

Tatsächlich könnte die gewaltige Mehrheit die Risiken für den designierten
Premier übertünchen. "Labour steht vor massiven politischen Herausforderungen
und wird von einem Bündnis in der Wählerschaft getragen, das zwar sehr breit,
aber sehr oberflächlich ist", sagt der Politologe Anand Menon vom King's College
London. "Es ist also leicht zu erkennen, welche Gefahren sich ergeben."

Breite Strömungen innerhalb der Labour-Partei

Starmer muss zunächst einmal alle Strömungen innerhalb der Partei bei Laune
halten. Labour ist nicht einfach mit der deutschen Schwesterpartei SPD
gleichzusetzen. Das Spektrum würde in Deutschland
- wenn man einen Vergleich versucht - in etwa von der Linkspartei bis
zum eher konservativ orientierten Seeheimer Kreis in der SPD reichen.

Der linke Flügel um Ex-Parteichef Jeremy Corbyn, der 2019 krachend gegen den damaligen konservativen Premier Boris Johnson verlor und anschließend von
Starmer aus der Partei gedrängt wurde, dürfte aufbegehren, wenn Labour zu sehr
in die politische Mitte rückt. Den Platz dafür haben die Konservativen mit ihrem
starken Rechtskurs der vergangenen Jahre freigegeben.

Vor allem aber muss Starmer nun die Britinnen und Briten überzeugen, die
nicht seinetwegen für Labour gestimmt haben, sondern um die Konservativen nach
14 Jahren voller Chaos, Skandale und wirtschaftlicher Stagnation abzustrafen.
Nicht Labour wurde gewählt, die Tories wurden abgewählt, urteilte Professor John
Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow, der wohl bekannteste
Umfrageforscher im Land, schon vor der Prognose.

Tatsächlich muss Labour auch einige Dämpfer hinnehmen. Spitzenpolitiker
Jonathan Ashworth verliert seinen Wahlkreis überraschend an einen unabhängigen,
propalästinensischen Kandidaten. Selbst Parteichef Starmer erhält deutlich
weniger Stimmen als beim vorigen Mal. Auch ihm setzte ein Bewerber zu, der das
israelische Vorgehen im Gazastreifen kritisiert.

Große Mehrheit trotz recht weniger Stimmen

Im britischen Mehrheitswahlrecht gelingt nur dem Sieger eines Wahlkreises
der Sprung ins Unterhaus. Stimmen für die unterlegenen Kandidaten haben keine
Auswirkungen. Tatsächlich aber geht es durchaus eng zu: Obwohl Labour im
Unterhaus fast eine Zweidrittelmehrheit erreichen dürfte, hat die Partei
wahrscheinlich deutlich unter 50 Prozent der Stimmen erhalten. Auch die
Wahlbeteiligung war anscheinend sehr niedrig.

Das zeigt sich auch im Ergebnis der kleineren Parteien. Die
Liberaldemokraten können laut Prognose die Zahl ihrer Sitze verfünffachen, die
Rechtspopulisten von Reform UK kommen aus dem Stand auf 13 Abgeordnete -
deutlich mehr als erwartet. "Labour muss in der Regierung hart dafür arbeiten,
die Wähler an sich zu binden, die 2024 für Starmer gestimmt haben. Weil sie
nicht Labour wählen, sondern die Tories loswerden wollten", kommentiert
Sky-News-Reporterin Rigby.

Gewaltige Herausforderungen

Die Wählerbindung dürfte schwierig werden. Das Land steht vor enormen
Herausforderungen. Der staatliche Gesundheitsdienst NHS liegt am Boden, es gibt
zu wenig Wohnraum, die maroden Gefängnisse sind überfüllt, es herrscht akuter
Fachkräftemangel, der Brexit ist noch immer nicht überwunden, das Vertrauen in
die Politik erschüttert. Die Liste ließe sich fortführen.

Nur gibt es eigentlich kein Geld, um Verbesserungen zu finanzieren und
notwendige Investitionen anzuschieben. Labour will Steuererleichterungen für
Privatschulen streichen, Steuerschlupflöcher für wohlhabende Ausländer schließen
sowie die Übergewinnabgabe für Energieunternehmen erhöhen. Für Privathaushalte,
die ohnehin unter der höchsten Steuerlast seit Jahrzehnten klagen, soll sich
aber nichts ändern. Auf Starmer und Labour warten nach der ersten
Gipfelbesteigung noch viele weitere Berge./bvi/DP/zb

--- Von Benedikt von Imhoff und Christoph Meyer, dpa ---

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