16.07.2024 06:22:39 - dpa-AFX: VERMISCHTES: Schüler soll Ex-Freundin getötet haben - Prozess beginnt

HEIDELBERG/ST. LEON-ROT (dpa-AFX) - Er soll seine 18-jährige Ex-Freundin in
einem Aufenthaltsraum der gemeinsamen Schule erstochen haben: Rund ein halbes
Jahr nach dem Tod der Abiturientin muss sich der mutmaßliche Täter, ihr
gleichaltriger Ex-Freund, ab heute (8.30 Uhr) vor dem Heidelberger Landgericht
verantworten. Ihm werden unter anderem Mord und gefährliche Körperverletzung
vorgeworfen.

Laut Anklage soll er am 25. Januar mit einem Fleischmesser mehrfach auf die
junge Frau eingestochen haben - unter anderem in den Nacken und die Herzgegend.
Die 18-Jährige starb noch am Tatort auf einem Schulgelände in St. Leon-Rot bei
Heidelberg. Der Angeklagte war dann mit einem Auto geflohen - nach einem Unfall
in Niedersachsen klickten die Handschellen.

Die Tat ist ein extremer Fall von Gewalt an Schulen - aber kein Einzelfall.
Schläge, Tritte, sexuelle Übergriffe: Aus Schulen in Deutschland werden mehr
Fälle von Gewalt bekannt. In Baden-Württemberg etwa wurden im vergangenen Jahr
2545 Straftaten gegenüber Schülern und Lehrern erfasst - eine Zunahme um 13,5
Prozent. Die Zahl der Gewaltdelikte an bayerischen Schulen stieg 2023 um 24,5
Prozent auf 690. In Berlin ging nach einem Höchststand bei Straftaten an Schulen
2022 die Zahl der registrierten Delikte noch einmal um knapp zwölf Prozent in
die Höhe.

Autounfall mit 100 Kilometern pro Stunde auf der Flucht

Der mutmaßliche Täter im Fall St. Leon-Rot war nach dem Tod der Schülerin
mit einem Auto bis nach Niedersachsen gekommen. Dort stieß er dann in Seesen -
verfolgt von der Polizei - mit mindestens 100 Kilometern pro Stunde mit einem
unbeteiligten Fahrzeug zusammen. Sowohl der 18-Jährige als auch der Fahrer des
anderen Fahrzeugs wurden verletzt. Der junge Mann soll zudem zwei Polizisten
angegriffen haben. Wegen des Unfalls wirft die Staatsanwaltschaft ihm
gefährliche Körperverletzung vor.

Der Prozess wird komplett unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden.
Grund dafür sei, dass Teil der Anklage auch eine Körperverletzung aus dem
November 2023 ist. Damals soll der mutmaßliche Täter die später getötete
Schülerin bereits mit Faustschlägen verletzt haben. Zum Zeitpunkt dieser Tat war
er noch 17 Jahre alt und damit minderjährig.

Bei der Tat im November soll er die junge Frau geschlagen haben, weil sie
sich von ihm trennen wollte, so die Anklage. Er soll erst von ihr abgelassen
haben, als ihre Mutter das Zimmer betrat. Die Schülerin erlitt demnach unter
anderem eine Nasenbeinfraktur sowie Prellungen des Jochbeins und der
Halswirbelsäule.

Kein gerichtlich angeordnetes Kontaktverbot

Das Opfer zeigte den Angreifer laut Anklage nach den Faustschlägen an,
forderte aber kein gerichtlich angeordnetes Kontakt- oder Annäherungsverbot. Die
Polizei kontaktierte den Schüler den Angaben zufolge mehrfach im Zuge von
Gefährderansprachen. Die Schulleitung setzte ein Kontaktverbot mit verschiedenen
Maßnahmen innerhalb der Schule durch. Sowohl das Opfer als auch der mutmaßliche
Täter waren Abiturienten.

Sollte der mutmaßliche Täter nach Jugendstrafrecht verurteilt werden, drohen ihm nach Angaben des Gerichts bis zu 15 Jahre Haft; bei einer Verurteilung nach
Erwachsenenstrafrecht lebenslänglich.

Ein Sprecher der Schule sagte kurz vor Prozessbeginn: "Die Schulgemeinde ist erleichtert, dass der Abi-Jahrgang die schriftlichen und mündlichen
Abi-Prüfungen trotz der Umstände richtig gut hinbekommen hat. Und gleichzeitig
ist die Schulgemeinde erleichtert, dass die Hauptverhandlung nunmehr sehr zügig
nach der Tat stattfinden wird."

Bereits kurz vor der Tat an dem Gymnasium in St. Leon-Rot hatte ein
ebenfalls tödlicher Angriff in einer Schule im badischen Offenburg für Entsetzen
gesorgt: Ein 15-Jähriger soll am 9. November vergangenen Jahres mit einer
Pistole in seiner Schule auf einen Mitschüler geschossen haben. Das Opfer starb
im Krankenhaus. Gegen den Jugendlichen läuft derzeit ein Prozess wegen Mordes
und versuchten Mordes. Das Verfahren steht nach Auskunft des Landgerichts kurz
vor dem Abschluss. Die Staatsanwaltschaft hat auch die Eltern des mutmaßlichen
Schützen angeklagt, wie sie am Montag mitteilte: Sie wirft ihnen fahrlässige
Tötung und Verstöße gegen das Waffengesetz vor.

Gewalt unter Kindern und Jugendlichen nach Corona-Pandemie gestiegen

Gewalt unter Kindern und Jugendlichen hat nach Einschätzung von Expertin
Sibylle Winter auch infolge der Corona-Pandemie zugenommen. Das zeige sich sehr
selten in schwerster Gewalt wie den beiden Tötungsdelikten in Baden-Württemberg,
sagte die stellvertretende Klinikdirektorin der Klinik für Psychiatrie,
Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Berliner
Charité nach der Tat in St. Leon-Rot. "Aber es gibt mehr emotionale Gewalt. Es
wird mehr geschrien, mehr beleidigt." Mobbing beispielsweise nehme zu.

Als Grund nannte Winter unter anderem die Lockdowns mit geschlossenen
Schulen und dem sogenannten Homeschooling. Vor allem in der Schule, im
Miteinander erwerbe man aber soziale Kompetenzen. Gerade 15-Jährige wie der
mutmaßliche Täter in Offenburg und 18-Jährige wie der Verdächtige in St.
Leon-Rot seien in einer Altersspanne, in der man wichtige Schritte mache - vom
pubertierenden, bisweilen rebellierenden Teenager zum Erwachsenen. Auch das
Umfeld wie Eltern und Schule als mögliche Ansprechpartner spielten hier eine
Rolle.

Für den Prozess gegen den 18-Jährigen sind acht Verhandlungstage angesetzt.
Das Urteil ist für den 15. August terminiert./jak/DP/zb

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