07.07.2024 14:45:57 - dpa-AFX: HINTERGRUND/Kandidatur auf der Kippe: Wie geht es weiter, Joe Biden?

WASHINGTON (dpa-AFX) - Gut vier Jahre ist es her, da sagte Joe Biden diesen
Satz: "Ich sehe mich als eine Brücke, als nichts anderes." Es gebe eine ganze
Generation von Führungspersönlichkeiten, die nach ihm käme. "Sie sind die
Zukunft dieses Landes."

Damals war Biden noch Wahlkämpfer, schließlich zog er als ältester Präsident in der US-Geschichte ins Weiße Haus ein. Heute liegt der Fokus des 81-Jährigen
offenbar nicht mehr ganz so stark auf der neuen Generation als Zukunft des
Landes - sondern vor allem auf sich selbst. Der Demokrat will im November
wiedergewählt werden - noch einmal den Republikaner Donald Trump schlagen. Daran
lässt er keinen Zweifel.

Der alte Mann und das Weiße Haus

Dass sein Alter ihm zum Verhängnis werden könnte, war nie ein Geheimnis.
Peinliche Verwechslungen, Stolperer und Fahrigkeit bei Bidens Auftritten gehören
schon lange zum Alltag des US-Präsidenten. Als er im vergangenen Jahr
ankündigte, noch einmal für die Demokraten ins Rennen um die Präsidentschaft
gehen und seine Amtszeit um vier Jahre verlängern zu wollen, war bereits klar:
Bidens Alter und die Debatte über seinen Zustand würden sein größtes Problem im
Wahlkampf werden.

Lange bemühten sich Bidens Partei, seine politischen Verbündeten und allen
voran sein Mitarbeiterstab, seine altersbedingten Schwächen zu kaschieren und
seine politischen Errungenschaften anzupreisen. Vor allem betonten sie Bidens
reichen Erfahrungsschatz.

Bidens desaströser Auftritt bei dem TV-Duell gegen Trump aber gleicht einer
Zäsur: Denn plötzlich wurde für jeden sichtbar - und das in schmerzhafter
Deutlichkeit - wie es um jenen Mann steht, der sich überzeugt zeigt, die USA
weitere vier Jahre anführen zu können.

Nato-Gipfel wird zur Bewährungsprobe

In der kommenden Woche findet in Washington der Nato-Gipfel statt -
eigentlich eine willkommene Gelegenheit für Biden, sich und seine Fähigkeiten
als Anführer des Westens zu inszenieren. Dass der große Jubiläumsgipfel in die
heiße Phase des US-Wahlkampfs in Washington fällt, kommt sicherlich nicht von
ungefähr.

Doch scheinen das Nato-Treffen und die geplante Abschlusspressekonferenz nun eher zur Bewährungsprobe zu werden. Jede Regung des Demokraten wird aufmerksam
verfolgt. Ein geschmeidiger Auftritt an der Seite ausländischer Staats- und
Regierungschefs hingegen könnte Bidens Position stärken.

Über allem schwebt die Frage, ob Biden in der Lage ist, seinen Job weitere
vier Jahre zu machen. Die Demokraten brauchen eine Antwort - und zwar schnell.
Denn schon in vier Monaten wird gewählt. Was könnte nun passieren?

Szenario 1: Biden steigt zeitnah aus dem Präsidentschaftsrennen aus

Biden könnte in den kommenden Tagen seinen Rückzug verkünden. Der wichtige
Nato-Gipfel würde davon völlig überschattet. Sollte Biden bis nach dem Treffen
des Verteidigungsbündnisses warten, dürfte die Welt bei Bidens Auftreten nur auf
Versprecher und Stolperer schauen. Eigentlich soll es bei dem Gipfel um den
Ukraine-Krieg und die Stärkung der eigenen Abschreckungs- und
Verteidigungsfähigkeiten des Bündnisses gehen.

So oder so: Die Chance, dass Trump nach der Wahl wieder ins Weiße Haus
einzieht ist seit Bidens TV-Debakel größer geworden. Der Republikaner hat seinen
Vorsprung zu Biden Umfragen zufolge ausgebaut. Die Verbündeten müssen damit
rechnen, dass der Anführer der westlichen Welt bald nicht mehr Biden heißt.
Mittel- oder langfristige Zusagen der USA sind mit Vorsicht zu genießen - und
Biden könnte in der aktuellen Gemengelage ein wenig wie eine lahme Ente wirken.

Sollte Biden absehbar hinschmeißen, bleiben noch rund anderthalb Monate bis
zum Parteitag der Demokraten in Chicago. Dann soll Biden eigentlich offiziell
zum Kandidaten seiner Partei gekürt werden - dafür hat er die nötigen
Delegiertenstimmen bei den Vorwahlen bereits gesammelt. Deshalb kann auch nur er
selbst entscheiden, wie es weitergeht. Würde Biden bald auf die Kandidatur
verzichten, bliebe genug Zeit für einen innerparteilichen Kampf um die Nachfolge
des 81-Jährigen.

Biden müsste sich offensiv hinter seine Vize Kamala Harris stellen, um die
Chancen auf einen schmutzigen Machtkampf zu verringern. Die Fronten wären dann
geklärt, die Demokraten könnten sich auf den politischen Gegner Trump
konzentrieren. Sollte das Los auf die 59-jährige Harris fallen, könnte sie wohl
auch auf die Millionen an Spendengeldern zugreifen, die im Namen von Biden und
Harris im Wahlkampf gesammelt wurden. Im Falle eines anderen Kandidaten wäre das
nicht so einfach.

Szenario 2: Biden steigt kurz vor oder während des Parteitags aus

Sollte Biden wochenlang warten, bis er Klarheit schafft, dürfte das eine
quälende Zeit werden - für ihn und die Partei. Die Demokraten könnten in
Umfragen weiter an Boden verlieren, weitere Großspender könnten sich abwenden.

Was Biden mit einem solchen Vorgehen aber mit Sicherheit erreichen würde,
wäre Zeitdruck bei der Frage nach der Nachfolge. Die Partei müsste sich in
wenigen Tagen oder gar Stunden einigen. Viel Zeit, sich öffentlichkeitswirksam
zu zerlegen, gäbe es nicht. Diverse Wahlgänge begleitet von heftigem
Kandidaten-Lobbying wären aber möglich. Neben Harris als Alternative werden auch
der Gouverneur Kaliforniens, Gavin Newsom, oder die Gouverneurin von Michigan,
Gretchen Whitmer, als Optionen genannt. Der Parteitag in Chicago würde mit
Sicherheit als historisch in die Geschichte eingehen.

Szenario 3: Biden steigt nach dem Parteitag aus

Überlegt es sich Biden erst nach dem Parteitag in Chicago anders, würde die
Entscheidung einem Vorstandszirkel der Partei mit einigen hundert Mitgliedern
zufallen. Parteianhängern könnte es übel aufstoßen, wenn der Beschluss allein in
einer solchen Runde fiele. Für die Positionierung des Nachfolgers im Wahlkampf
bliebe außerdem kaum noch Zeit.

In den Bundesstaaten gibt es auch Fristen, bis wann die Parteien ihre
Kandidaten bestätigt haben müssen, um auf dem Wahlzettel zu stehen. Sollte Biden
bis nach dem Parteitag warten, könnten einige von ihnen bereits abgelaufen sein.
Unklar ist, ob Harris, die als Vize auch auf dem Wahlzettel steht, als mögliche
Präsidentschaftskandidatin die Biden-Stimmen dann bekommen würde. Konservative
Gruppen haben bereits angekündigt, dass sie dagegen rechtlich vorgehen würden.

Szenario 4: Biden bleibt im Rennen

Gut möglich, dass Biden darauf beharrt, im Rennen zu bleiben - und dem Druck nicht nachgibt. Umfragen sehen Trump auch in den besonders umkämpften
Bundesstaaten, die weder den Republikanern noch Demokraten fest zuzurechnen
sind, deutlich vor Biden. Damit ist nicht ausgemacht, dass Biden im November
verlieren wird. Aber es ist eine sehr realistische Option. Trump dürfte sich
freuen, wenn er sich weiter an dem bekannten Gegner abarbeiten kann.

Die schwierige Situation der Demokraten muss sich Biden zum Vorwurf machen
lassen. Der siebenfache Großvater behauptete mehrfach von sich, er sei die am
besten qualifizierte Person für den Job, und nur er könne Trump schlagen.
Aktuell sieht es aber nicht danach aus.

Parteianhänger könnten sich von Bidens Beharrlichkeit vor den Kopf gestoßen
fühlen: Was die einen als Zeichen der Stärke werten, ist für andere gefährliche
Sturheit. Biden sagt selbst immer wieder, bei der Wahl ginge es um nichts
Geringeres als die Demokratie in den USA./nau/DP/he

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