26.06.2024 12:29:02 - dpa-AFX: EM 2024/Aus Gold wird Metall: Debatten um England und den 'Chemiker'

KÖLN (dpa-AFX) - Fliegende Becher, nörgelnde Experten, kaum berücksichtigte
Toptalente: Die Zweifel an Turnierfavorit England mit Kapitän Harry Kane wachsen
vor dem Start in die K.-o.-Runde immer mehr. Statt sich am Tag nach dem komplett
faden 0:0 gegen Slowenien über den Gruppensieg und die vermeintlich leichtere
Turnierhälfte ohne Deutschland, Frankreich und Spanien zu freuen, herrschen auf
der Insel große Ernüchterung und immer mehr Skepsis.

Im Zentrum der Kritik: Trainer Gareth Southgate, dessen Abschied als Trainer der Three Lions in den Tagen von Deutschland immer konkreter wird. Die
Boulevardzeitung "The Sun" verglich den 53-Jährigen am Mittwoch mit einem
"Chemiker, der alles umkehrt". Aus dem vorzüglichen Personal, das das Blatt als
"Gold" bezeichnete, mache Southgate "Metall". Und wer die drei biederen
Vorrundenspiele des Ensembles mit einem Gesamtwert von über einer Milliarde Euro
gesehen hat, der weiß vor dem Achtelfinale (18.00 Uhr) am Sonntag in
Gelsenkirchen genau, was damit gemeint ist.

Southgate selbst sieht "Schritt nach vorne"

Southgate dagegen übt sich in Durchhalteparolen und stellt sich demonstrativ vor seine Spieler, die erneut enttäuschten. "Ich verstehe das Narrativ über mich
und es ist besser, wenn ich das abkriege als das Team", sagte er. "Aber es sorgt
für eine unübliche Umgebung, in der wir arbeiten müssen. Ich habe kein anderes
Team gesehen, das sich qualifiziert hat und ähnlich viel Kritik erhalten hat."

Es gab allerdings auch kein anderes Team, das in der Vorrunde - gemessen an
den hohen Erwartungen - so sehr enttäuscht hat. Auch wenn der Ex-Profi das ganz
anders sieht, vor allem nach dem Gruppenabschluss. "Ich bin stolz auf die
Spieler. Wir haben das Spiel dominiert, wir werden besser. Wir haben eine
Vielzahl an Chancen gehabt. Es war ein Schritt nach vorn", beschrieb Southgate
die 90 Minuten, nach denen am Ende alle froh waren, als der Abpfiff erfolgte.

Immer mehr Buhrufe

Die Offensive um Kane, Champions-League-Sieger Jude Bellingham, Phil Foden
und Bukayo Saka ist auf dem Papier mit das Beste und Klangvollste, was
Fußball-Europa derzeit zu bieten hat. Doch auf dem Rasen wirkt alles ideenlos
und uninspiriert. Und auch die Fans wenden sich immer deutlicher ab, wie in Köln
zu sehen war. "Ich denke an die früheren Turniere. Da haben wir unseren besten
Fußball auch oft erst in der K.-o.-Phase gespielt", sagte Kane mit einer
ordentlichen Portion Zweckoptimismus. Der 30 Jahre alte Stürmerstar des FC
Bayern kommt bislang bei weitem nicht so zur Geltung wie erhofft.

Southgate applaudierte höflich in Richtung Kurve, doch von dort flogen ihm
Bierbecher entgegen. Auch deutliche Buhrufe waren diesmal unter den rund 20 000
Three-Lions-Fans zu hören. Für den schwer kritisierten Trainer geht es nun
darum, nach der Liebe der Fans nicht auch noch den Rückhalt der Profis zu
verlieren.

Die Experten haben sich längst - und auch bereits vor dieser EM - auf den
Trainer eingeschossen. Für Ex-Nationalspieler Gary Neville war die Nullnummer
gegen Slowenien "schwer anzuschauen". Von "gähnendem Ruhm" war zu lesen, der
Begriff Gruppensieger passte überhaupt nicht zur Vorrundenleistung.

Euphorie wie beim DFB-Team? Dominanz wie bei Spanien? Komplette Fehlanzeige. Immerhin: Auf diese beiden bislang so starken Teams könnte England frühestens im
Endspiel am 14. Juli in Berlin treffen.

Millionenschwere Talente kaum eingesetzt

Dabei hätte Southgate alle Möglichkeiten, am Offensivpersonal zu drehen.
Cole Palmer, Kobbie Mainoo und Anthony Gordon sind hoch veranlagte Talente mit
einem Marktwert von 50 Millionen Euro aufwärts. Bei Southgate kommen sie - wenn
überhaupt - nur auf meist kurze Joker-Einsätze. Gordon durfte am Dienstag in der
89. Minute aufs Feld.

"Wir sind zufrieden mit den Wechseln. Wie sie zusammengespielt haben, da
waren ein paar feine Spielzüge dabei. Sie kriegen ihre Spielanteile", beschrieb
der Trainer. Vom Spiel gegen Dänemark blieb ein Foto, das Palmer (FC Chelsea)
und Mainoo (Manchester United) mit starrem Blick auf der Bank zeigte.

Trotz des irritierenden Auftritts bekam keiner der beiden Jungprofis eine
Chance. Dass Southgate für das Achtelfinale einen Umbau vornimmt oder gar ins
Risiko geht, darf bezweifelt werden. Ab Sonntag könnte für ihn jedes Spiel das
letzte an der Seitenlinie der Three Lions sein./pre/DP/jha

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