25.06.2024 16:22:57 - dpa-AFX: HINTERGRUND 2/Historischer Tag: EU startet Beitrittsgespräche mit Ukraine und

(neu: Start der Beitrittsverhandlungen)

LUXEMBURG (dpa-AFX) - Wenn es um die Frage ging, welche Länder irgendwann
einmal den Beitritt zur EU schaffen könnten, war jahrelang vor allem von
Balkanstaaten wie Montenegro oder Serbien die Rede. Russlands Kriegspolitik hat
dies grundlegend geändert. Die Ukraine und ihr kleiner Nachbarstaat Moldau sind
in kürzester Zeit zu EU-Beitrittskandidaten geworden und feierten am Dienstag
den offiziellen Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen. Ist die EU schon bald
größer als vor dem Brexit?

Was bedeutet die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen?

Relevant ist der Schritt vor allem psychologisch und symbolisch. Die EU
zeigt den schätzungsweise mehr als 35 Millionen Menschen in der Ukraine und den
2,4 Millionen Menschen in Moldau, dass sie eine Perspektive haben, EU-Bürger zu
werden. Er soll ein Zeichen sein, dass es sich lohnt, für Freiheit und
Demokratie zu kämpfen. Der CDU-Außenpolitiker Michael Gahler sagte zum Start des
Verhandlungsprozesses, für die Menschen in der Ukraine sei die Europäische Union
"der verheißungsvolle Fluchtort aus dem düsteren Kriegsalltag". Sie setzten
große Hoffnungen auf EU.

Gilt das gleiche auch für Moldau?

Da es in Moldau keinen Krieg gibt, ist die Lage dort etwas anders, die EU
hat aber auch ein strategisches Interesse daran, die Bürger des ukrainischen
Nachbarstaates auf EU-Kurs zu halten. "Die Republik Moldau wird wegen ihrer
Solidarität mit der Ukraine und der proeuropäischen Orientierung, angeführt von
Präsidentin Maia Sandu, vom Kreml offen ins Visier genommen", erklärt David
McAllister (CDU), der zuletzt Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im
Europäischen Parlament war. Das zeige sich besonders vor den anstehenden
Präsidentschaftswahlen im Oktober.

Worum geht es in den Beitrittsverhandlungen?

Grundsätzlich ist der Begriff Verhandlungen etwas irreführend. Letztendlich
geht es nämlich darum, dass die EU den Kandidatenländern sagt, was sie noch zu
tun haben, um in die Union aufgenommen zu werden. Dabei geht es vor allem darum,
nationale Rechtsvorschriften an EU-Recht anzupassen und die Wirtschaft und die
Verwaltung EU-tauglich zu machen. Um den Prozess übersichtlicher zu gestalten,
wurde er in 35 sogenannte Kapitel eingeteilt. Am Anfang geht es vor allem darum,
dass das Land die grundlegenden Beitrittsvoraussetzungen erfüllt. Dazu geht es
dann um Themen wie Rechtsstaatlichkeit und Justiz.

Bei den Beitrittskonferenzen am Dienstag in Luxemburg ging es erst einmal
darum, die Leitlinien und Grundsätze für die Verhandlungen vorzustellen. Die
ersten Verhandlungskapitel dürften nach Angaben von EU-Diplomaten im Verlauf der
nächsten zwölf Monate eröffnet werden. Bis dahin muss die EU-Kommission noch in
einem sogenannten Screening für die Verhandlungskapitel prüfen, inwieweit das
nationale Recht der Beitrittskandidaten noch vom EU-Recht abweicht.

Wie lange werden die Beitrittsverhandlungen dauern?

Das ist vollkommen unklar und hängt vor allem von den Reformfortschritten
der Kandidatenländer ab. Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wurden
beispielsweise bereits 2005 gestartet - und heute liegen sie wegen Rückschritten
bei der Rechtsstaatlichkeit komplett auf Eis. Relevant ist auch, dass für das
Öffnen und Schließen der 35 Verhandlungskapitel eine einstimmige Entscheidung
aller EU-Staaten notwendig ist. Dies birgt Blockade-Risiken.

Wer könnte ein Veto einlegen?

Vor allem bei der Ukraine gilt Ungarn als Risikofaktor. So sagte
Regierungschef Viktor Orban den Zeitungen der Funke Mediengruppe zum
Gesprächsstart, die Sache sei für ihn "ein rein politisch motivierter Prozess".
Er halte es nicht für gut, Verhandlungen zu beginnen, ohne Klarheit in
bestimmten Fragen zu haben. Als Beispiele nannte er, dass man aus seiner Sicht
erst prüfen müsse, was die Folgen wären, wenn man ein Land im Krieg aufnehme,
dessen Grenzen in der Praxis nicht geklärt seien. Zudem müsse geprüft werden,
was für Folgen der Beitritt des riesigen Landes für die Landwirtschaft der EU
hätte.

Hat Orban da einen Punkt?

Die riesige Landwirtschaft der Ukraine würde tatsächlich eine umfangreiche
Reform der EU-Agrarförderungen notwendig machen. EU-Experten rechneten zuletzt
aus, dass ohne Änderungen in einem Haushaltszeitraum von sieben Jahren EU-Mittel
in Höhe von insgesamt 186 Milliarden Euro in die Ukraine fließen würden. Beim
Thema Grenzen gilt, dass die Ukraine vermutlich nicht EU-Mitglied werden kann,
bevor nicht der Krieg mit Russland beendet wurde. Denn sonst könnte Kiew nach
Artikel 42, Absatz 7 des EU-Vertrags militärischen Beistand von anderen
EU-Staaten einfordern - und die EU wäre offiziell Kriegspartei.

Bräuchte es nur in der EU-Landwirtschaft Reformen vor einer EU-Erweiterung?

Grundsätzlich sind viele in der EU der Ansicht, dass eine Aufnahme von
großen Ländern wie der Ukraine nur dann zu einem Erfolg werden kann, wenn es
zuvor eine umfangreiche EU-Reform gibt. Die Entscheidungsprozesse im Bereich der
Außenpolitik sind beispielsweise schon heute teilweise sehr schwerfällig, weil
in der Regel das Einstimmigkeitsprinzip gilt.

Wie sieht die Bundesregierung in Berlin die Eröffnung der
Beitrittsverhandlungen?

Europastaatsministerin Anna Lührmann (Grüne) sprach von einem historischen
Tag für Europa. Sowohl die Ukraine als auch Moldau hätten trotz der russischen
Bomben, der Desinformations-Kampagnen und der Destabilisierungsversuche bereits
große Fortschritte erzielt. Auf dem Weg in die EU müssten noch viele Reformen
folgen. Der Tag der Eröffnung der Beitrittsverhandlungen sei aber ein Tag zu
feiern - am nächsten Tag gehe die Arbeit weiter./aha/DP/jha

--- Von Ansgar Haase, dpa ---

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