08.07.2024 13:03:54 - dpa-AFX: Ökonomen-Stimmen zur Frankreich-Wahl

PARIS (dpa-AFX) - Die Parlamentswahl in Frankreich ist vollkommen anders
ausgegangen, als es nach der ersten Runde vor einer Woche zu erwarten gewesen
wäre. Überraschend gewinnt das linke Lager. Die rechtsnationale Partei
Rassemblement National (RN) legt zu, hat aber keine Chance auf eine eigene
Regierung. Das Mitte-Lager von Präsident Emmanuel Macron landet vor dem RN auf
Platz zwei.

Wie geht es jetzt weiter in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Eurozone?
Stimmen von Volkswirten zu der Frankreich-Wahl:

Bruno Cavalier, Chefvolkswirt ODDO BHF:

"Nach den Wahlen hat sich der Schwerpunkt in der Nationalversammlung nach
links verschoben. Der linke Block befürwortet Steuererhöhungen und steht dem
Problem der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen gleichgültig gegenüber. Das
genaue Gegenteil von allem, was Macron in den letzten sieben Jahren tun wollte.
(…) Es gibt keinen Grund, dass die Risikoprämie bei Staatsanleihen wieder auf
das Niveau von vor einem Monat zurückgehen sollte, als es dieses politische
Risiko noch nicht gab. Vielmehr wird es Gründe für einen Anstieg geben, wenn
sich der Haushaltsprozess verzögert oder wenn der finanzpolitische Kurs
Frankreich von einem glaubwürdigen Weg zur Sanierung der Staatsfinanzen
abbringt."

Peter Goves, Leiter Staatsschulden-Research MFS Investment Management:

"Politik in Frankreich wird weniger berechenbar und weniger nachvollziehbar
- die Ungewissheit steigt. (...) Was nun kommt, ist angesichts der geteilten
Nationalversammlung eine offene Frage. Denkbar sind eine 'Regenbogenkoalition'
oder eine 'geschäftsführende Regierung'. Politisch mag das nicht die angenehmste
Option sein, aber für die Märkte wäre es akzeptabel. (...) Die Beziehungen zur
EU könnten sich anspannen, insbesondere im Fall eines Defizitverfahrens."

Berndt Fernow und Jens-Oliver Niklasch, LBBW:

"Das Linksbündnis will beispielsweise die Rentenreform zurückdrehen und die
Massenkaufkraft stärken. Das lässt sich mit der von der EU geforderten
Haushaltsdisziplin kaum vereinen. Die Liberalen wollen ihrerseits
Steuererhöhungen vermeiden. Im Hinblick auf die brisanten Themen Innere
Sicherheit und Migrationspolitik gilt es wiederum, dem RN kein weiteres Wasser
auf seine Mühlen zu leiten. Parallelen zu Deutschland sind unübersehbar. Die
Kapitalmärkte werden die Entwicklung in den kommenden Wochen genau beobachten."

Research-Team Dekabank:

"Eine stabile Regierung erscheint mit diesem Ergebnis nicht möglich und
entsprechend werden Themen wie Haushaltskonsolidierung und Wirtschaftsreformen
auf der Agenda nach hinten rutschen. Während eine breite Koalition aus Macrons
Allianz, Teilen der Linken und den Republikanern das aus Marktsicht 'beste'
Szenario wäre, wäre eine linke Minderheitsregierung das Negativszenario."

Thomas Gitzel, Chefvolkswirt VP Bank:

"Da kein Lager die absolute Mehrheit erreichte, wird sich eine
Regierungsbildung als sehr schwierig erweisen. (...) Für die EU wäre eine
Regierung unter Jean-Luc Mélenchon ein Schreckgespenst. Der bekennende EU-Gegner
würde das Regelwerk der Union wie etwa den Stabilitäts- und Wachstumspakt wohl
konsequent ignorieren. Frankreich als zweitgrößte Volkswirtschaft der EU würde
zu einem destabilisierenden Faktor werden. (....) Statt der dringend notwendigen
Konsolidierung des defizitären Haushalts droht sogar eine weitere Ausdehnung der
Negativlücke, insbesondere dann, wenn die umstrittene Rentenreform von Emmanuel
Macron wieder zurückgenommen würde."

Andrzej Szczepaniak, Volkswirt bei Nomura:

"Die linke Neue Volksfront hat die Erwartungen zwar deutlich übertroffen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass sie regieren wird. Wir gehen davon aus, dass
letztlich ein technokratischer Premierminister der politischen Mitte eingesetzt
werden wird."

Stephen Dover, Leite Franklin Templeton Institute:

"Frankreich steht mittelfristig immer noch vor großen Herausforderungen,
darunter die Haushaltskonsolidierung, die langfristige Tragfähigkeit der
wichtigsten Säulen des Sozialvertrags (Renten, Gesundheitswesen) und die
dringende Notwendigkeit, die Produktivität zu steigern. Es ist höchst
unwahrscheinlich, dass eine aus der Not heraus konstruierte Mehrheit (um die
extreme Rechte von der Macht fernzuhalten) über das politische Kapital verfügt,
um die langfristigen Herausforderungen Frankreichs anzugehen."

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