11.07.2024 11:55:13 - dpa-AFX: EM 2024/ROUNDUP/England in Ekstase: Comeback-Könige vor der Krönung

DORTMUND/BLANKENHAIN (dpa-AFX) - Nach "einem der besten Abende seit 50
Jahren" wähnten sich Englands Comeback-Könige dem EM-Gipfel ganz nah. Inmitten
der nächtlichen Heimreise von Dortmund ins Trainingscamp nach Blankenhain
schickte Kapitän Harry Kane per Handy etwas verwackelt ein paar Grüße in die
ausgeflippte Heimat.

"Das ist besonders, besonders, besonders. Das bedeutet die Welt für uns.
Lasst uns den letzten Schritt gehen. Auf geht's", sagte Kane voller Stolz mit
Blick auf das Finale gegen Spanien. 58 Jahre des sehnsüchtigen Wartens könnten
am Sonntag (21.00 Uhr/ARD und MagentaTV) im Olympiastadion von Berlin enden. Die
Devise für das Endspiel gegen den Favoriten gab der völlig gelöste Gareth
Southgate, der von den tollen Nächten in Deutschland besonders schwärmte, noch
im EM-Stadion von Dortmund aus.

"One more! One more!", rief der Trainer den rund 20.000 jubelnden Fans nach
dem 2:1-Halbfinalsieg gegen die Niederlande lautstark zu. Noch ein Sieg. Zuvor
hatte Southgate seine ganze Freude herausgebrüllt und spontan ein Tänzchen auf
dem Rasen aufgeführt. Die Fans sangen schon beschwingt den Turnierklassiker
"Three Lions" mit der konkreten Aussicht, dass der Dauer-Slogan "It's coming
home" endlich wahr wird und die Leidenszeit endet.

"Eine verdammt harte Reise"

Schon der vorletzte Schritt zum ersten großen Titel seit dem WM-Triumph von
1966 war für England ein Stück weit historisch. Beobachtet von Pop-Stars wie Ed
Sheeran und Adele erreichten die Three Lions erstmals in ihrer Geschichte ein
großes Endspiel, das nicht auf der britischen Insel stattfindet.

"Das geschafft zu haben, macht mich wahnsinnig stolz", sagte Chefcoach
Southgate, der binnen weniger Momente vom Buhmann zum Helden wurde. Beim Krimi
im Halbfinale wechselte er in Joker Ollie Watkins den späteren Siegtorschützen
ein. Bayern-Star Kane, der dafür weichen musste, sagte: "Es war eine verdammt
harte Reise. Wir hatten unsere Momente in diesem Turnier. Wenn wir die am
Sonntag nochmal haben, sind wir am Ziel und Champions."

Nicht die spielerische Klasse, sondern etwas Glück, ein Geniestreich von
Jude Bellingham und viel Moral haben England ins Endspiel geführt. "Qualität ist
die eine Sache, aber die anderen Attribute wie Charakter oder Mentalität kannst
du im Training nicht lernen. Du bekommst sie aus Erfahrungen", sagte Bellingham.
Dabei war jedes K.-o.-Spiel auf seine Weise dramatisch, England holte dreimal in
Serie nach einem 0:1-Rückstand auf. So etwas gab es bei Europameisterschaften
zuvor noch nie.

Auch Biden verfolgt Englands EM-Weg

Die ständigen Comebacks und drei mitreißende Duelle brachten auch den
britischen König in Wallung. Charles III. gratulierte zwar unmittelbar zum
Berlin-Ticket, knüpfte aber auch eine Bitte an seinen Glückwunsch. "Wenn ich
euch ermutigen dürfte, den Sieg zu sichern, bevor Wundertore in letzter Minute
oder ein weiteres Elfmeterdrama nötig würden", sagte der König einer Mitteilung
des Palastes zufolge. Dann würde "die Belastung für den kollektiven Puls und
Blutdruck der Nation erheblich gemildert".

Der neue Premierminister Keir Starmer wird die Reise in die deutsche
Hauptstadt antreten und am Sonntag live dabei sein. Bei seinem Antrittsbesuch im
Weißen Haus scherzte er schon mit US-Präsident Joe Biden über den Erfolg der
Three Lions. "Das liegt alles am neuen Premierminister", sagte Biden. Starmer
von der Labour-Partei hatte den Posten in der vergangenen Woche von seinem
Vorgänger Rishi Sunak übernommen.

Systemumstellung greift

Neben Matchwinner Watkins ("Das beste Gefühl aller Zeiten") und Vorbereiter
Cole Palmer wurde vor allem Southgate zu einem der englischen Gewinner dieses
denkwürdigen Abends. Denn: Der 53 Jahre alte Ex-Profi hatte die beiden Joker
eingewechselt und war damit ins Risiko gegangen, weil er Kapitän Kane erneut
vorzeitig herausnahm. Auch seine Systemumstellung auf eine Dreierkette zahlte
sich aus, weil Weltklasse-Profi Phil Foden im nun praktizierten 3-4-2-1 in die
geliebte Spielfeldmitte rücken und sich so freier entfalten kann.

Nach Wochen der Kritik und Schmähungen sowie Becherwürfen von den eigenen
Fans fühlte Southgate etwas Genugtuung. "Das ist noch nicht das Ende", sagte er.
Die Fans sehen zwar noch immer keine dauerhaften spielerischen Glanzleistungen
von Southgates Team, erleben beim rasanten Auf und Ab aber zumindest die
komplette Bandbreite der Emotionen.

"Ein rücksichtsloser Abenteurer"

Und der konservative und vorsichtige Coach, der das Milliardenensemble
partout nicht frei loslassen will? Ist offenbar ein Thema von gestern. Der
"Guardian" nennt Southgate einen "Technokraten, der sich in einen
rücksichtslosen Abenteurer verwandelt hat". Das Abenteuer soll nach knapp acht
Jahren Amtszeit und höchst respektablen Bilanzen bei den großen Turnieren mit
einem Silberpokal enden.

Die Erfahrung des verlorenen EM-Finals von 2021 gegen Italien will Southgate beim zweiten Anlauf bestmöglich nutzen. Southgate wurde nach der
Endspiel-Niederlage gegen Italien vorgehalten, er habe vor dem Elfmeterschießen
die falschen Spieler eingewechselt.

Linekers Zitat vor einer Umschreibung

"Wir sind jetzt ruhiger in den K.-o.-Spielen und sind viel besser
vorbereitet. Aus jeder Erfahrung lernst du. Wenn ich 2021 im Finale nicht alles
richtig gemacht haben sollte, entschuldige ich mich hiermit. Ich versuche, es
diesmal besser zu machen", kündigte der Trainer an. Der Gegner scheint diesmal
noch etwas übermächtiger als damals. Zudem fehlt der Heimvorteil, den man damals
in Wembley genoss.

In der Heimat ist die Begeisterung dennoch riesig. Fußball-Ikone Gary
Lineker nähert sich seinem "Lebensziel", wie er einen großen Titel Englands
jüngst bezeichnete. Das späte Tor von Watkins, der nach Abpfiff sofort von allen
geherzt wurde, ließ auch Lineker jubeln. Sein legendärer Spruch lautet: "Fußball
ist ein einfaches Spiel: 22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach, und am
Ende gewinnen immer die Deutschen." In diesem Sommer könnte er umgedichtet
werden. Ausgerechnet in Deutschland./pre/DP/jha

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