14.06.2024 16:28:44 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Scholz wird kurz gefeiert und Putin grätscht rein

BARI (dpa-AFX) - Zu Hause ist Olaf Scholz nach dem Desaster seiner SPD bei
der Europawahl in massiven Schwierigkeiten, beim G7-Gipfel in Italien wird der
Kanzler dagegen gefeiert - zumindest für ein paar Minuten.

Als er am Morgen seines 66. Geburtstags pünktlich zur ersten Arbeitssitzung
am Konferenzraum des Luxushotels "Borgo Egnazio" eintrifft, obwohl er mit
einigen Vertrauten schon in der Nacht reingefeiert hat, nimmt der von ihm meist
geschätzte Kollege die Sache in die Hand. "Es ist der Geburtstag des Kanzlers",
sagt Joe Biden. "In der Biden-Familie muss man "Happy Birthday" zum Geburtstag
singen."

Dann stimmen mit dem US-Präsidenten alle in das Ständchen für "Dear Olaf"
ein, nur der japanische Ministerpräsident Fumio Kishida verpasst die
Gesangseinlage. Selbst Emmanuel Macron, mit dem Scholz bis heute nicht so
richtig warm geworden ist, umarmt ihn einmal rechts und einmal links. Für einen
kurzen Moment spielen innenpolitische Probleme und internationale Krisen keine
Rolle.

Weitreichende Entscheidungen bei zentralen Themen

Für Scholz sind die paar Tage Gipfelmarathon - vom Wiederaufbautreffen für
die Ukraine in Berlin über den G7 bis zur Friedenskonferenz in der Schweiz -
eine willkommene Abwechslung. Und die Gruppe führender westlicher Demokratien
bringt in entscheidenden Fragen auch Weitreichendes zustande.

- Ein 50 Milliarden US-Dollar schweres Kredit-Paket, finanziert aus
Zinserträgen aus eingefrorenem russischem Vermögen soll die Widerstandsfähigkeit
der Ukraine im Abwehrkampf gegen Russland sichern. Für Scholz ein "historischer
Schritt".

- Nach mehr als einem Dutzend anderen Verbündeten haben nun auch die USA mit der Ukraine ein Sicherheitsabkommen, das militärische Unterstützung und
Zusammenarbeit über zehn Jahre sichern soll. Für Biden ist es eines von mehreren
Zeichen an Kremlchef Wladimir Putin, die vom G7-Gipfel ausgehen: "Ja, immer und
immer und immer wieder werden wir sagen, wir werden der Ukraine zur Seite
stehen."

- Die Gruppe stellt sich hinter Bidens Friedensplan für Gaza und
demonstriert Geschlossenheit - trotz aller Differenzen, die es im westlichen
Lager gibt, etwa bei der staatlichen Anerkennung Palästinas.

Pragmatikerin Meloni schert an einer Stelle aus

Komplett ist die Harmonie aber nicht. Italiens rechte Ministerpräsidentin
Giorgia Meloni, die auf dem internationalen Parkett eigentlich als Pragmatikerin
gilt, schert an einer Stelle aus. Die Gastgeberin verhindert, dass die Runde ihr
Bekenntnis zum Recht auf Abtreibung erneuert - ausgerechnet als einzige Frau
unter den Sieben. In der Abschlusserklärung wird nun das Recht der Frauen auf
angemessene Gesundheitsdienste betont, wobei es auch um "sexuelle und
reproduktive Gesundheit und Rechte" gehe. Das Wort Abtreibung kommt nicht vor.

Meloni schafft es aber, den Gipfel-Horizont zu erweitern. Auf ihre Einladung nimmt in fast einem halben Jahrhundert G7-Geschichte erstmals ein Papst an einem
Gipfel teil, übrigens wohl der größte Abtreibungsgegner der versammelten Runde.
Mit dabei sind auch Vertreter des sogenannten globalen Südens wie Brasiliens
Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva oder Indiens Regierungschef Narendra Modi
- ein Zeichen, wie die Welt sich gerade ändert.

Selbst Argentiniens Präsident Milei herzt den Papst

Die Begrüßung der verschiedenen Beteiligten an der Adria-Küste, inmitten von Olivenbäumen und Bougainvilleen, fällt in der Regel äußerst freundlich aus.
Papst Franziskus wird sogar von seinem Landsmann, Argentiniens Präsident Javier
Milei, geherzt, der ihn vergangenes Jahr noch einen "Kommunisten" und ein "Stück
Scheiße" genannt hatte.

Der Papst nutzt seinen Auftritt in großer Runde dann, um von der Politik
Regeln für den Umgang mit Künstlicher Intelligenz zu verlangen. Bei aller
Begeisterung über die Möglichkeiten von KI müsse letztlich der Mensch
entscheiden, nicht irgendwelche Maschinen. Insbesondere forderte er, den Einsatz
von sogenannten tödlichen autonomen Waffen zu verbieten. "Keine Maschine darf
jemals die Wahl treffen können, einem Menschen das Leben zu nehmen oder nicht."

Die Gipfel-Karawane zieht weiter

Am Samstag geht es für Scholz und andere weiter zum nächsten Gipfel in die
Schweiz. Auf dem Bürgenstock, einem Bergrücken am Vierwaldstätter See, soll es
um erste kleinste Schritte auf dem Weg zu einer Friedenslösung für die Ukraine
gehen. Aber einige werden fehlen. Biden will schon am Freitagabend zurück in die
USA fliegen, um in Los Angeles mit Hollywood-Stars wie Julia Roberts und George
Clooney Spenden für seinen Wahlkampf zu sammeln. China hatte schon vorher eine
Teilnahme in der Schweiz abgesagt - auch, weil Russland dort nicht eingeladen
ist. Mit Lula und Modi wollen zwei weitere der wichtigsten Freunde Russlands
nicht von Süditalien in die Schweiz weiterreisen. Für den Gipfel ist das eine
Hypothek. Ziel war eigentlich, dass eben nicht nur die Verbündeten in der
Schweiz zusammenkommen.

Russlands Präsident Putin grätscht am Freitag von der Seite in die
Vorbereitungen und macht einen Vorschlag für eine Friedenslösung, der aus
ukrainischer Sicht völlig abwegig ist: Abzug der ukrainischen Truppen aus den
von Russland annektierten Gebieten. Wenn die Ukraine dann noch einer
Mitgliedschaft in der Nato abschwöre, sei Russland sofort bereit, das Feuer
einzustellen und zu verhandeln. Nicht umsonst nennt Scholz den Friedensgipfel
immer wieder ein zartes "Pflänzchen", das vorsichtig gepflegt werden müsse.

Zurück ins ungemütliche Berlin - Haushalt als Vertrauensfrage

Am Sonntag geht es für den Kanzler gleich früh zurück ins ungemütliche
Berlin. Mit dem SPD-Präsidium will er das schlechteste Ergebnis seiner Partei
bei einer nationalen Wahl seit mehr als 130 Jahren analysieren. Und mit
Finanzminister Christian Lindner (FDP) und Wirtschaftsminister Robert Habeck
(Grüne) will er in den Haushaltsverhandlungen weiterkommen, die sich nun zu
einer Art Vertrauensfrage in der Koalition wird. Die nächsten zweieinhalb Wochen
werden entscheidend für die Ampel. Wenn am 3. Juli der Haushaltsplan nicht
steht, sieht es düster für das Regierungsbündnis aus./mfi/DP/men

--- Von Michael Fischer, Christoph Sator, Christiane Jacke, Ansgar Haase,
dpa ---

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