22.05.2024 07:45:02 - dpa-AFX: VERMISCHTES/Jubiläum für einen Kultkasten: Die rote Telefonzelle wird 100

LONDON (dpa-AFX) - In Kingston-upon-Thames hat man den Lauf der Dinge
offenbar schon geahnt. Wie eine stürzende Dominoreihe sind in dem
Südwestlondoner Bezirk mehrere rote Telefonzellen angeordnet. "Out of Order"
heißt die Installation, das lässt sich als "außer Betrieb" übersetzen. Tatsache
ist: So charismatisch sie sind - wirklich gebraucht wird die britische Ikone in
Zeiten von Smartphones und mobilem Internet kaum noch. Und so ist ein bisschen
Wehmut dabei, wenn der Kultkasten nun Jubiläum feiert.

An diesem Donnerstag (23. Mai) ist es 100 Jahre her, dass der Architekt
Giles Gilbert Scott seinen Entwurf für den Kiosk No 2 einreichte. Abgekürzt wird
der technisch-banale Name K2. Das erinnert an den berühmten Achttausender im
Himalaja, die Verwechslungsgefahr dürfte aber gering sein.

Lange Schlangen für ein Foto mit der roten Box

Klar ist: Die roten Telefonzellen gehören zu Großbritannien wie die Royals
und der Tee. Ohne sie ist das Straßenbild von London für Touristen kaum
vorstellbar. Eine der bekanntesten Boxen steht im Regierungsbezirk Westminster
und hat sogar einen eigenen Eintrag bei einem Online-Kartendienst - bei schönem
Wetter stehen Besucher in langen Schlangen an, um ein Foto mit Blick aufs
Parlament und Big Ben zu schießen.

2015 zum großartigsten britischen Design der Geschichte gekürt, hat die
Bedeutung schon vorher längst abgenommen. Landesweit gibt es noch rund 3000 der
Boxen, wie die Behörden schätzen, die Zahl sinkt ständig. Kein Anschluss unter
dieser Nummer? Auch deshalb hat der Telekommunikationsriese BT schon vor gut 15
Jahren sein Adoptionsprogramm für die Zellen ins Leben gerufen.

Aus Telefonzelle wird Mini-Bibliothek

Tausende "red boxes" sind seitdem von Kommunen und Organisationen zum
symbolischen Preis von einem Pfund (1,17 Euro) erworben worden. Die britische
Fantasie kennt keine Grenzen: Als Mini-Bibliothek, Standorte von
Defibrillatoren, als Gewächshaus oder sogar als kleines Museum sind die
Telefonzellen erhalten. Einige Exemplare wurden angeblich sogar als Duschen in
Wohnungen eingebaut. Auf den Straßen ist der einstige "eye-catcher" immer
seltener zu sehen. Etwas wehmütig vergleichen Londoner die Entwicklung mit den
ebenso berühmten roten Doppeldeckern und schwarzen Taxis - die fahren zwar noch
in Massen durch die britische Hauptstadt, aber immer häufiger in anderen Farben.

Tatsächlich sollte auch K2 eigentlich nicht im bekannten Rot erstrahlen.
"Scotts Siegerentwurf sollte ursprünglich aus silberfarben lackiertem Stahl mit
einer blaugrünen Innenausstattung bestehen", weiß die britische Regierung zu
berichten. Erst nach der Kür entschied sich das damals zuständige General Post
Office dafür, die Box aus Gusseisen herzustellen und rot zu lackieren.

Inspiration von einem Grab

Entworfen hatte Scott (1880-1960) das Design für einen Wettbewerb, mit dem
die Royal Fine Arts Commission auf Wunsch des Generalpostmeisters eine
Alternative zum Kiosk No 1 finden wollte. Die Zelle aus Beton war erst 1921
eingeführt worden, aber reichlich unbeliebt. Angeblich ließ sich Scott vom
Familiengrab inspirieren, das der Architekt John Soane, der unter anderem das
Gebäude der Bank of England entwarf, 1816 für seine Ehefrau errichten ließ.
Scott kannte das Werk gut - er war jahrzehntelang Treuhänder des Sir John
Soane?s Museum.

K2 überzeugte bald. Das Rot passte zu den gleichfalls ikonischen roten
Briefkästen und den roten Bussen. Allerdings war das imposante Design, das auf
allen vier Seiten das königliche Wappen von König Georg V. zeigte, nur in der
Hauptstadt zu sehen. Mit einer britischen Tonne war die Zelle einfach zu schwer
und zu teuer für den landesweiten Einsatz. Dennoch diente K2 als Grundlage für
die nächsten Generationen der roten Box.

K8 bedeutete das Ende der Serie

1935 gab die Post bei Scott eine neue Telefonzelle in Auftrag, um das
silberne Thronjubiläum von König George V. zu feiern. Der "K6-Jubiläumskiosk"
ähnelte dem K2, bestand aus Gusseisen und war rot lackiert, aber mit rund einer
dreiviertel Tonne deutlich leichter. Größere Fenster ließen mehr Licht hinein.
Ende der 1930er Jahre waren im Vereinigten Königreich etwa 20 000
K6-Telefonzellen im Einsatz - auch die Installation in Kingston besteht aus
ausrangierten K6. Als letzte "red telephone box" wurde 1968 die K8 von Architekt
Bruce Martin eingeführt, die nur noch ein großes Fenster auf drei Seiten bot.

Auch wenn in ihnen immer seltener telefoniert wird - aussterben dürften die
ikonischen Zellen nicht. Die Regierung hat einige von ihnen unter Denkmalschutz
gestellt. Denn, wie es mal ein Passant in Kingston sagte: "Sie sind ein Teil des
Bluts, Körpers und der Struktur von Großbritannien."/bvi/DP/zb

© 2000-2024 DZ BANK AG. Bitte beachten Sie die Nutzungsbedingungen | Impressum
2024 Infront Financial Technology GmbH