05.07.2024 14:25:38 - dpa-AFX: EM 2024/HINTERGRUND 2: Wolfsgruß-Wirbel überschattet Fußballfest in Berlin

(neu: mehr Details und Hintergrund)

BERLIN (dpa-AFX) - Die riesige türkische Gemeinde in Berlin hofft auf ein
Fußballfest, das Überraschungsteam auf den größten Erfolg seit 16 Jahren - doch
die Wolfsgruß-Debatte wirft einen tiefen Schatten auf den Sport. Die
Zwei-Spiele-Sperre für Merih Demiral, der spontane Besuch des türkischen
Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und ein brisanter Aufruf der türkischen Ultras
heizen das laut Polizei "Nonplusultra-Hochrisikospiel" im EM-Viertelfinale am
Samstag (21.00 Uhr/RTL und MagentaTV) zwischen der Türkei und den Niederlanden
zusätzlich an. Und Erdogan reist nicht gerade als Vermittler an.

"Sagt jemand etwas darüber, dass auf den Trikots der Deutschen ein Adler
ist? Sagt jemand etwas darüber, dass auf den Trikots der Franzosen ein Hahn ist
und warum sie sich wie Hähne aufspielen?", sagte Erdogan laut der staatlichen
Nachrichtenagentur Anadolu. Demiral habe mit dem Wolfsgruß lediglich seine
"Begeisterung" gezeigt. "Hoffentlich ist die ganze Sache am Samstag erledigt",
ergänzte der 70-Jährige, "wenn wir das Spielfeld als Sieger verlassen und in die
nächste Runde einziehen".

Als "Skandal" bezeichnete der türkische Sender TRT die Entscheidung der
Europäischen Fußball-Union von Freitag, Demiral für zwei Spiele zu sperren. Ein
Kommentator des Senders Habertürk sprach gar von einer "rassistisch" motivierten
Entscheidung. Der Hashtag #BeFairUEFA erobert auf der Plattform X kurz nach
Bekanntwerden der Nachricht in Deutschland und weltweit den Spitzenplatz.

Bericht: Verband zieht vor Cas

Die UEFA begründete ihrerseits, der Abwehrspieler habe "die allgemeinen
Verhaltensgrundsätze nicht eingehalten, die grundlegenden Regeln des guten
Benehmens verletzt, Sportereignisse für Kundgebungen nicht-sportlicher Art
genutzt und den Fußballsport in Verruf gebracht".

Ein Reporter des türkischen Staatsfernsehen TRT berichtete, der Verband
werde beim Internationalen Sportgerichtshof Cas Berufung einlegen. Es gebe dort
ein für die EM beschleunigtes Verfahren, mit einer Entscheidung sei
wahrscheinlich schon am Freitagabend zu rechnen. Ohne Erfolg würde der für das
türkische Spiel so wichtige Innenverteidiger gegen die Niederlande und auch in
einem möglichen Halbfinale fehlen.

Der 26 Jahre alte Demiral hatte beim 2:1 im Achtelfinale gegen Österreich
nach seinem zweiten Tor in Leipzig mit beiden Händen das Handzeichen und Symbol
der "Grauen Wölfe" geformt und damit für viel Empörung gesorgt. Als "Graue
Wölfe" werden die Anhänger der rechtsextremistischen "Ülkücü-Bewegung"
bezeichnet, die in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet wird.

Ehefrau betont: "Mein Mann ist kein Rassist!"

Der große politische Druck aus der Türkei, das laut Medien 30-seitige
Verteidigungspapier und auch das vehemente Fürsprechen von Ehefrau Heidi Demiral
("Mein Mann ist kein Rassist!") haben zunächst nichts genutzt. Das türkische
Außenministerium hatte allein schon die UEFA-Untersuchung als inakzeptabel
bezeichnet.

Nicht jede Person, die das Zeichen zeige, könne als rechtsextremistisch
bezeichnet werden. Ähnlich argumentieren nun türkische Fußball-Ultras, die auf
der Plattform X die Fans im Berliner Olympiastadion zum Zeigen des Wolfsgrußes
während der Nationalhymne aufgefordert haben.

Die Augen werden dann auch auf Erdogan gerichtet sein. Berichten zufolge ist sein Besuch auch eine Reaktion auf die Debatte in Deutschland, in der ein Verbot
der "Grauen Wölfe" gefordert wurde. Ein Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz
(SPD) ist nach Angaben aus dem Kanzleramt nicht geplant.

Das Sportliche ist fast komplett in den Hintergrund gedrängt. Auch die
Vorfreude unter den rund 200.000 in Berlin lebenden Menschen mit türkischen
Wurzeln wurde etwas geschmälert. Das sei "wirklich sehr bedauerlich", sagte
Vorstandssprecher Safter Çinar vom Türkischen Bund in Berlin-Brandenburg (TBB)
der Deutschen Presse-Agentur. Er kritisierte deswegen auch Demiral. "Was der
Junge gemacht hat", sagte er, sei "natürlich Unsinn".

Polizei ist gewappnet

Der Wirbel um Demiral und der Erdogan-Besuch ändere wenig am
Polizei-Aufkommen, sagte Benjamin Jendro, Sprecher der Gewerkschaft der Polizei
Berlin: "Wir rufen eh schon alles in den Dienst, was laufen kann." Das
Viertelfinale nannte er ein "Nonplusultra-Hochrisikospiel", rund 3000 Beamte
dürften im Einsatz sein.

Bei einem Sieg werden die Fans des von Vincenzo Montella trainierten Teams
wieder zu Tausenden den Breitscheidplatz, den Ku'damm sowie große Straßen in
Kreuzberg und Neukölln stürmen und den ersten EM-Halbfinaleinzug seit 2008 mit
Hupkonzerten und Feuerwerk feiern. In Berlin sei die Unterstützung "noch eine
Nummer größer", sagte Kapitän Hakan Calhanoglu.

Türkisches Heimspiel oder Oranje-Party?

Schon beim Länderspiel im vergangenen November gegen Deutschland (3:2)
hatten türkische Fans im Olympiastadion eine Heimspiel-Atmosphäre verbreitet.
"Hoffentlich gewinnen wir wieder und machen unsere Leute und unser Land
glücklich. Das ist unser größter Traum", sagte Calhanoglu, der nach abgesessener
Gelbsperre ins Team zurückkehrt.

Auch die Niederlande werden mit tausenden feierfreudigen Fans in Berlin
erwartet. Nach dem dominanten Auftritt im Achtelfinale gegen Rumänien (3:0)
wollen Cody Gakpo, Xavi Simons und Co. dafür sorgen, dass sich die Oranje-Party
in Deutschland fortsetzt. "Solche Leistungen brauchen wir, um eine Chance zu
haben, weiterzukommen", sagte Trainer Ronald Koeman, der beim EM-Titel 1988 in
Deutschland als Spieler dabei war./jso/DP/jha

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