09.05.2024 10:17:52 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Sommermärchen in der EM-Edition? Ein Turnier mitten in Krisen

HAMBURG (dpa-AFX) - Sommer, Sonne, Party. Eine Fußball-Weltmeisterschaft als
schwarz-rot-goldener Rausch. Deutschland überrascht sich selbst als
hervorragende Gastgeber, und die Welt staunt. "Die Welt zu Gast bei Freunden"
ist nicht nur Motto, sondern wird gelebt. Dazu eine deutsche Nationalmannschaft,
die sympathisch ist, mit der sich die Menschen leicht identifizieren können -
und die vor allem erfolgreich ist.

Plötzlich sind die deutschen Farben und Fahnen nicht nur omnipräsent,
sondern gehören dazu zu einer neuen Art des Gemeinschaftsgefühls. Medien und
Politik jubeln über und befeuern den ihrer Meinung nach positiven und
unverkrampften Patriotismus. "Ich finde gut, dass ich nicht mehr der Einzige bin
mit einer Flagge am Auto", sagte der damalige Bundespräsident Horst Köhler. Die
WM 2006 im Rückblick - eine Befreiung, ein vierwöchiges Fest voller
Leichtigkeit. Kurz: ein Sommermärchen.

Auch 18 Jahre nach der WM in Deutschland sind jene Tage im Juni und Juli bei vielen Beteiligten und Fans noch in lebhafter und angenehmer Erinnerung. "Wir
haben uns als Land hervorragend präsentiert", sagte der langjährige DFB-Direktor
und Nationalmannschafts-Manager Oliver Bierhoff (56) der Deutschen
Presse-Agentur bei der Digital- und Marketingmesse OMR in Hamburg.

Und dies nicht nur, weil dem DFB-Team mit Platz drei sportlich mehr gelang,
als viele erwartet hatten. Selbst als neun Jahre später die Affäre um eine
dubiose Millionen-Zahlung aufkam, bei der Stimmenkauf für die WM-Vergabe
vermutet wurde, konnte dies die Erinnerungsbilder aus den Stadien und den
Fan-Meilen kaum trüben.

"EM kommt in einer schwierigen Phase, aber zur richtigen Zeit"

Die Weltmeisterschaft von damals ist die Messlatte für die EM 2024. Diese zu erreichen, wird schwer. Wichtigste Voraussetzung: die Nationalmannschaft von
Bundestrainer Julian Nagelsmann muss ähnlich erfolgreich sein und sympathisch
auftreten wie die von 2006.

Die WM war die größte Veranstaltung seit der deutschen Vereinigung. Und sie
fand im Vergleich zur Gegenwart in ruhigeren Zeiten statt. Heute gibt es mehrere
geopolitische Krisen mit zwei großen Kriegen. Die Folgen der Corona-Pandemie
sind noch spürbar. Die Klimakatastrophe ist Dauerthema. Innenpolitisch wird die
Demokratie bedroht, die Gesellschaft ist gespalten, die Schere zwischen Arm und
Reich klafft weit auseinander. Die Wirtschaft in Deutschland stagniert.

"Das Turnier ist keine Weltmeisterschaft, aber eine Europameisterschaft. Es
kommt in einer schwierigen Phase, aber zur richtigen Zeit", ist Per Mertesacker
überzeugt. Als 21-Jähriger spielte er unter Bundestrainer Jürgen Klinsmann 2006
sein erstes WM-Turnier und hat noch gute Erinnerungen an die Zeit vor 18 Jahren.

"Man war immer so gefangen und hat sich gefragt: Schaffen wir das auch? Man
hat erst im Turnierverlauf gemerkt, was das für einen Ruck gibt für
Deutschland", sagte der heutige Leiter der Nachwuchsakademie des
Premier-League-Clubs FC Arsenal in London und ZDF-Experte bei der EM. Vorher
habe man sich nicht ausmalen mögen, wozu das Land imstande sei.

Lahms Wunsch: Zeitenwende für Fußball und Gesellschaft

Genau so einen Effekt wünscht sich EM-Turnierdirektor Philipp Lahm (40) auch in diesem Sommer. In einem Gastbeitrag für den "Kicker" schrieb der erste
deutsche Torschütze bei der WM 2006 von einer "Zeitenwende im deutschen Fußball.
Und in der Gesellschaft".

Mit Blick auf das Eröffnungsspiel am 14. Juni solle die EM als "Wendepunkt"
begriffen werden: "für Europa, für die Gesellschaft, für uns alle". Dieses
Turnier sei ein Aufruf für Solidarität und Fürsorge sowie für ein
Wiedererstarken des europäischen Gedankens, "um künftig besser den Krisen und
Konflikten trotzen zu können".

Alles andere als ein bescheidener Anspruch für ein Sportereignis mitten in
krisenhaften Zeiten. Dabei scheint nur wenig PR-Unterstützung aus der Berliner
Politik für die EM zu kommen. Und auch sonst ist von EM-Stimmung lange nur wenig
im Land zu spüren. "Die EM findet noch nicht richtig statt", sagte
1996-Europameister Bierhoff. "Aber ich glaube, wenn das Turnier einmal beginnt,
wenn man gute Spiele sieht, wenn die Siege kommen, dann wird auch die
Begeisterung der Menschen da sein."

Kein zweites Sommermärchen?

"Ein bisschen Entlastung durch ein Fußball-Großevent wird dringend
gebraucht", sagte Sozialpsychologin Dagmar Schediwy. Und doch hofft die Berliner
Wissenschaftlerin auf kein zweites Sommermärchen.

Schediwy hatte bei der WM 2006, der EM 2008 und der WM 2010 Deutschlandfans
auf Fanmeilen befragt und 2012 ihre Ergebnisse im Buch "Ganz entspannt in
Schwarz-Rot-Gold?" veröffentlicht. Ihr Fazit zur WM 2006: "Die Fußball-WM 2006
hatte den Charakter eines nationalen Coming-out."

Ihrer Meinung nach "hat die WM 2006 zu einer Normalisierung
nationalistischer und geschichtsrevisionistischer Einstellungen geführt", sagte
sie der dpa. "Das hat letztlich auch zum Aufstieg rechter Parteien und
Bewegungen geführt, zumindest den Weg geebnet."

Anders als bei der WM 2006 würden heute nicht nur Fußball-Fans mit
schwarz-rot-goldenen Fahnen durch die Straßen laufen, sondern auch rechte
Bewegungen und Parteien. "Da sind bei der EM 2024 vielleicht anders als 2006
Appelle, sein Nationalgefühl unverkrampft auszudrücken, nicht mehr so
angebracht."

Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) habe da "gute Vorarbeit geleistet mit diesen rosa und lilafarbenen Trikots", meinte Schediwy. "Mit diesen Trikots kann sich
ein richtiger Deutsch-Nationaler wohl nicht identifizieren."/clu/DP/ngu

--- Von Claas Hennig, dpa ---
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