21.06.2024 08:02:02 - dpa-AFX: HINTERGRUND: Wenn China angreift - Menschen bereiten sich auf Tag X vor

TAIPEH (dpa-AFX) - Im Bürogebäude einer unscheinbaren Seitengasse Taipehs
steht der Ernstfall auf der Tagesordnung. Während draußen zwischen
Straßenverkäufern und Essensständen das wuselige Großstadtleben der taiwanischen
Hauptstadt tobt, geht es drinnen um Kriegsführung, Propaganda und Erste Hilfe.
40 überwiegend junge Leute haben sich an einem Samstag in der Kuma Academy
eingefunden - der Großteil davon Frauen.

"Der Hauptgrund, weshalb ich hier teilgenommen habe, ist, um etwas über die
derzeitige Verfassung von Taiwans Verteidigung zu lernen", sagt die 27 Jahre
alte Su. Die Inselrepublik mit mehr als 23 Millionen Einwohnern ist durch eine
an ihrer engsten Stelle rund 130 Kilometer breite Meerenge (Taiwanstraße) von
China getrennt. Die kommunistische Regierung in Peking zählt Taiwan zu ihrem
Gebiet und will die Insel unter ihre Kontrolle bringen, obwohl sie diese bislang
nie regiert hatte und dort seit Jahrzehnten eine unabhängig gewählte Regierung
an der Macht ist.

Peking beruft sich auf die Geschichte: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde
Taiwan der Republik China zugesprochen. Dort tobte allerdings ein Bürgerkrieg
zwischen den Kommunisten und den Anhängern der nationalchinesischen Kuomintang.
Als die Nationalisten verloren, flohen sie nach Taiwan und regierten dort als
Republik China weiter. Im selben Jahr 1949 rief Revolutionsführer Mao Zedong in
Peking die Volksrepublik China aus. Peking drohte schon mehrfach, Taiwan auch
durch das Militär mit dem Festland "wieder zu vereinen", sollte es nicht auf
friedlichem Wege gelingen.

Training für Kriegs-Bewusstsein

"Die Akademie ist eher dazu da, um ein Bewusstsein für einen möglichen Krieg zu schaffen", sagt Mitgründer Shen Po-yang - in Taiwan auch als Puma Shen
bekannt. Die Menschen sollen vorbereitet sein, falls China seine Invasion auf
Taiwan beginnt, und nicht in Panik verfallen. Laut Shen könnte der beste
Zeitraum für einen Angriff aus Pekings Sicht zwischen 2025 und 2027 liegen oder
dann, wenn mehr als die Hälfte der Taiwaner sich ergeben würde. Wenn genügend
Leute das Wissen aus den Kursen der Akademie hätten, könnten sie sich selbst und
andere schützen, sagt Shen, der für die regierende Demokratische
Fortschrittspartei (DPP) im Verteidigungsausschuss des Parlaments sitzt.

Ungefähr 40 000 Menschen haben der Akademie zufolge das Training seit
Oktober 2022 bereits absolviert. Altersmäßig sei zwischen Jugendlichen bis
Armee-Veteranen alles dabei. Fast ein Drittel in den Kursen sind Frauen.
Teilnehmerin Su erklärt, dass Frauen sich mehr für den Kurs interessierten, weil
Männer durch die Wehrpflicht in Taiwan bereits bei der Armee gewesen seien und
die Materie deshalb schon kennen. Auch Akademie-Sprecher Aaron Huang verweist
darauf, dass Männer öfter im öffentlichen Dienst etwa bei Feuerwehr oder
Katastrophenhilfe nach Erdbeben eingesetzt würden und so schon Erfahrung hätten.

Zur ersten Stunde: Invasion

Der Morgen beim "Training für zivile Verteidigung" beginnt mit schwerer
Kost: Im Kurs für Kriegstheorie spricht ein Dozent über sogenannte
Grau-Zonen-Taktiken. Taiwan erlebt diese fast täglich, wenn Kampfjets der
chinesischen Volksbefreiungsarmee die inoffizielle Mittellinie in der
Taiwanstraße überfliegen und in die Identifikationszone für Luftverteidigung
(ADIZ) - nicht zu verwechseln mit dem Luftraum - eindringen.

Der Lehrer spielt gedanklich auch eine Invasion durch. Einen Vorgeschmack
dafür bot Chinas Militär Ende Mai, als Marine, Luftwaffe und Heer eine Blockade
um Taiwan und kleinere, nahe China gelegene Inseln probten. Im Ernstfall will
China so Fluchtwege aus Taiwan abschneiden und Hilfe von außen für die Insel
abblocken. Die Führung befahl die Übung als Strafe, weil wenige Tage zuvor
Taiwans neuer Präsident Lai Ching-te das Amt übernahm und aus Pekings Sicht in
seiner Rede klar Unabhängigkeitsabsichten benannte.

Peking sieht ihn und seine für eine Unabhängigkeit Taiwans stehende DPP als
Separatisten. Taipeh hat die Unabhängigkeit bislang nie offiziell erklärt. Viele
Länder gerieten dadurch in großen diplomatischen Zwist mit Peking. Nur sehr
wenige Staaten erkennen Taiwan offiziell an. Selbst die USA, Taiwans engster
Verbündeter, gehören nicht dazu, obwohl Washington im Verteidigungsfall
Unterstützung zugesichert hat.

Ratschläge und Kriegsvideos

In der Akademie spricht eine Dozentin nun über Propaganda und Einflussnahme
im Internet, vor allem über soziale Medien. Schon vor den Wahlen im Januar
hatten taiwanische Politiker China beschuldigt, so die öffentliche Meinung
beeinflusst zu haben. Teilnehmerin Ariel You freut sich über die Ratschläge.
Diese helfen ihr, wachsamer bei Informationen im Internet zu sein, wie die
Ende-20-Jährige sagt. Puma Shen fordert eine Stärkung der Cybersicherheit.
Chinas Hacker seien sehr stark, erklärt er. Er will außerdem mehr Schutz auf
Plattformen wie Tiktok gegen chinesische Propaganda.

Die Stimmung im Seminarraum ist trotz der ernsten Themen heiter.
Teilnehmerin You wartet vor allem auf den Erste-Hilfe-Teil. "Ich hatte
Verbandstechniken gelernt, als ich jünger war, und sie dann vergessen", erzählt
sie. Doch bevor es ans Zupacken geht, lässt der unterrichtende Sanitäter
plötzlich den Krieg ganz nah erscheinen: Er spielt das Video eines ukrainischen
Soldaten ab, dem eine Mine das Bein wegreißt und der sich mit einem sogenannten
Tourniquet noch selbst den Stumpen abbindet, um nicht zu verbluten.

Manche im Raum verstecken sich hinter den Kursunterlagen, um die grauenvolle Szene nicht sehen zu müssen. Kurz danach üben sie selbst, wie sie die
Abschnürbinde richtig anlegen oder Verletzte wegtragen müssen. Teilnehmerin Su
sagt, sie sei nun etwas beruhigter: "Ich denke, mit dem Wissen über einige
Sachen ist es leichter zu verstehen, dass es für sie (China) nicht so leicht
ist, wenn sie nach Taiwan kommen und uns angreifen wollen."/jon/DP/jha

--- Von Johannes Neudecker und Yu-Tzu Chiu, dpa ---

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