07.07.2024 20:43:06 - dpa-AFX: ROUNDUP 2/Parlamentswahl in Frankreich: Linke überraschend vorne

(aktualisierte Fassung)

PARIS (dpa-AFX) - Bei der Parlamentswahl in Frankreich liegt ersten
Hochrechnungen zufolge das Linksbündnis überraschend vorn. Das rechtsnationale
Rassemblement National könnte demnach nur auf dem dritten Platz hinter dem
Mitte-Lager von Staatspräsident Emmanuel Macron landen, wie die Sender TF1 und
France 2 nach Schließung der Wahllokale berichteten. Die absolute Mehrheit von
289 Sitzen dürfte keines der Lager erreichen.

Das linke Bündnis Nouveau Front Populaire könnte den Zahlen zufolge auf 172
bis 215 der 577 Sitze kommen. Macrons Kräfte bekommen demnach 150 bis 180
Mandate und das Rassemblement National (RN) um Marine Le Pen und seine
Verbündeten 120 bis 152.

Überraschungserfolg mit Zweckbündnis

Das Ergebnis ist eine große Überraschung. Nach der ersten Wahlrunde vor
einer Woche sahen Prognosen das RN noch knapp unter der absoluten Mehrheit und
damit möglicherweise in der Lage, die nächste Regierung zu stellen. Deutlich
zugelegt hat das RN dennoch: Im aufgelösten Parlament hatte es noch 88 Sitze.

Linke und Macrons Mitte-Kräfte hatten vor der zweiten Wahlrunde eine
Zweckallianz gebildet. Um sich in Wahlkreisen, in denen drei Kandidaten in die
zweite Runde kamen, nicht gegenseitig Stimmen wegzunehmen und dem RN so lokal
zum Sieg zu verhelfen, zogen sich etliche Kandidaten der Linken und der
Liberalen zurück. Ihre Wählerschaft riefen sie dazu auf, in jedem Fall gegen das
RN zu stimmen.

Frankreichs gespaltene Linke hatte sich erst vor wenigen Wochen für die
Parlamentswahl zum Nouveau Front Populaire zusammengeschlossen. Bei der
Europawahl waren die Parteien noch einzeln angetreten. Streit gibt es innerhalb
der Linken vor allem über die altlinke Führungsikone Jean-Luc Mélenchon. Der
Populist, der mit euroskeptischen Aussagen auffällt und einen klar
propalästinensischen Kurs fährt, wird selbst innerhalb seiner Partei heftig
kritisiert.

Eine klare Führung hat das Bündnis aus Linken, Kommunisten, Sozialisten und
Grünen nicht. Auch ein gemeinsames Programm gibt es nicht.

Kommt Minderheitsregierung oder Große Koalition?

Wie es weitergeht, ist vorerst unklar. Mit dem Ergebnis ergeben sich
verschiedene Zukunftsszenarien. Die Linken könnten versuchen, von den
Mitte-Kräften Unterstützung zu bekommen - entweder als eine Minderheitsregierung
mit Duldung oder in einer Art Großen Koalition. Angesichts der gegensätzlichen
politischen Ausrichtungen ist allerdings nicht abzusehen, ob dies gelingen
könnte. Auch hatte etwa Premier Gabriel Attal eine Regierungszusammenarbeit mit
der Linkspartei La France Insoumise explizit ausgeschlossen.

Unklar ist, ob Staatschef Emmanuel Macron in einem solchen Szenario
politisch gezwungen wäre, einen Premier aus den Reihen der Linken zu ernennen.
Die Nationalversammlung kann die Regierung stürzen.

Muss Macron Macht abgeben?

Bei einem Premier aus dem linken Lager müsste Macron Macht teilen. Der
Premier würde wichtiger. Was dies für Deutschland und Europa hieße, ist unklar.
Das Linksbündnis vertritt bei vielen großen politischen Themen sehr
unterschiedliche Positionen.

Klar scheint aber, dass Macron selbst in einer Koalition mit den Linken
nicht ungehindert seinen Kurs fortfahren könnte, sondern gezwungen wäre, etliche
Kompromisse einzugehen.

Ohne Mehrheit droht Stillstand

Sollte keines der Lager eine Regierungsmehrheit finden, könnte die aktuelle
Regierung als Übergangsregierung im Amt bleiben oder eine Expertenregierung
eingesetzt werden. Frankreich droht in einem solchen Szenario politischer
Stillstand. Eine erneute Auflösung des Parlaments durch Macron und Neuwahlen
sind erst im Juli 2025 wieder möglich.

Für Deutschland und Europa hieße das, dass Paris als wichtiger Akteur in
Europa und als Teil des deutsch-französischen Tandems nicht mehr tatkräftig zur
Verfügung stehen würde. Statt neuer Initiativen stünde in Frankreich Verwaltung
an der Tagesordnung. Das Amt von Staatschef Macron bleibt von der Wahl zwar
unangetastet, doch ohne handlungsfähige Regierung könnte auch er seine Projekte
nicht durchsetzen.

RN-Sieg hätte Folgen für Deutschland und Europa gehabt

Brüssel und Berlin dürften von dem Wahlausgang erleichtert sein. Zwar können die Rechtsnationalen ihre Fraktion in der Nationalversammlung ausbauen. Eine
Regierung scheint für sie aber quasi unmöglich. Diese wäre wohl das
Schreckszenario für Deutschland und die Europäische Union gewesen. Das RN hält
im Gegensatz zu Macron wenig auf die seit Jahrzehnten enge Zusammenarbeit mit
Berlin. Die europaskeptischen Nationalisten streben zudem danach, den Einfluss
der Europäischen Union in Frankreich einzudämmen.

Mit einer RN-Regierung wäre Frankreich politisch massiv nach rechts gerückt. Erstmals seit dem mit den Nationalsozialisten kollaborierenden Vichy-Regime
wären wieder Rechtsaußen-Kräfte an die Macht gekommen.

Zweifel am Wandel von Le Pens Partei

Den Rechtsnationalen wurde das Zweckbündnis der linken und liberalen Kräfte
für die zweite Wahlrunde zum großen Nachteil. Auch dürfte die Angst vor einer
rechtsnationalen Regierung viele Menschen an die Wahlurne getrieben haben.

Etliche Kandidatinnen und Kandidaten des RN waren zudem wegen angeblicher
rechtsextremer oder antisemitischer Aussagen in der Vergangenheit ins Gerede
gekommen. Somit ergaben sich in der Öffentlichkeit Zweifel an der von Marine Le
Pen betriebenen "Entteufelung" der Partei. Mit diesem Kurs versucht Le Pen seit
Jahren, ihre Partei gemäßigter erscheinen zu lassen und bis in die bürgerliche
Mitte hinein wählbar zu machen.

Linkes Lager profitiert von Einigkeit und Angst vor rechts

Die Linken profitierten von ihrem im Eiltempo gebildeten Bündnis. Auch dass
sie die Führungsfrage offen ließen, dürfte ihnen geholfen haben, diejenigen
Wähler hinter sich zu vereinen, die ein Problem mit dem Linkspopulisten
Mélenchon haben.

Außerdem dürften die Linken wegen der Verunsicherung und Angst vor einem
historischen Rechtsruck in Frankreich und einer rechtsnationalen Regierung
deutlich mehr Zuspruch bekommen haben.

Macron steht besser da als gedacht

Für den unpopulären Macron ist das Ergebnis überraschend weniger vernichtend als erwartet. Macron scheiterte zwar mit dem Versuch, die relative Mehrheit
seiner Mitte-Kräfte mit den Neuwahlen auszubauen. Immerhin könnte seine Fraktion
aber noch vor Le Pens Rechtsnationalen zweite Kraft werden und mit den Linken in
Regierungsverantwortung sein.

Noch in der ersten Wahlrunde war Macron und seinen Anhängern die Einigkeit
des linken Lagers zum Verhängnis geworden. Die Auflösung der Nationalversammlung
wurde von vielen als unverantwortlich gewertet. Auch dies lasteten Französinnen
und Franzosen Macron an./rbo/DP/he

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